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Reuchlinpreis 2022

Iran-Proteste sind bei Reuchlinpreis-Verleihung allgegenwärtig

Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur hat in Pforzheim den 31. Reuchlinpreis verliehen bekommen. Eigentlich wollte die Preisträgerin über pluralistische Religionstheorie sprechen. Doch ein hochaktuelles Thema dominierte am Ende ihre Dankesrede.

Pforzheims OB Peter Boch verleiht der Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur den Reuchlinpreis
Pforzheims Oberbürgermeister Peter Boch verleiht der Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur den Reuchlinpreis 2022. Foto: Harry Rubner

Ist es eine Revolution? Eine feministische und post-islamistische? Mit diesen Fragen steigt die Islamwissenschaftlerin und Journalistin Katajun Amirpur in ihre Dankesrede ein. Das Thema, das die diesjährige Reuchlinpreis-Verleihung der Stadt Pforzheim in gewisser Weise beherrscht: die Proteste im Iran.

Wie aktuell das Thema ist, zeigt am Samstag auch ein Blick in die Lobby des Pforzheimer Stadttheaters. Dort stehen Sabine Zeitler und Petra Löffler von der Pforzheimer Gruppe von „Terre des Femmes“.

Sie wollen mit ihren T-Shirts ein Zeichen der Unterstützung für die Frauen im Iran setzen. Unterstützung, die Amirpur später in ihrer Rede noch gewissermaßen einfordern wird.

Entscheidung für Reuchlinpreis für Katajun Amirpur fiel vor den Protesten im Iran

Dabei wollte die deutsch-iranische Preisträgerin doch eigentlich vor allem über pluralistische Religionstheorie sprechen. Aber die Ereignisse haben sich seit der Entscheidung, sie mit diesem Preis auszuzeichnen, praktisch überschlagen.

Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften schlug 2021 vor, Amirpur in diesem wichtigen 500. Todesjahr des großen Sohnes Pforzheims den Reuchlinpreis zu verleihen. Damals habe man die aktuellen Entwicklungen im Iran nicht absehen können, betont Pforzheims Oberbürgermeister Peter Boch (CDU). Und so widmet Amirpur einen großen Teil ihrer Rede den Protesten im Iran.

Es geht um Selbstbestimmung für alle.
Katajun Amirpur, Islamwissenschaftlerin und Reuchlinpreis-Trägerin

„Ich würde sagen: Was wir beobachten, hat inzwischen tatsächlich das Stadium der Revolution erreicht“, sagt sie. Und diese Revolution sei feministisch und, zwar nicht grundsätzlich anti-islamisch, aber wohl post-islamistisch.

Dabei gehe es beim Feminismus nicht darum, Frauen statt Männer an die Macht zu bringen, betont Amirpur. Das Ziel sei ein anderes: „Es geht um Selbstbestimmung für alle.“

Sabine Zeitler (inks) und Petra Löffler von der Pforzheimer Gruppe von „Terre De Femmes“
Sabine Zeitler (inks) und Petra Löffler von der Pforzheimer Gruppe von „Terre De Femmes“. Foto: Christel Manzey

Zum Symbol dieses Kampfes wurde ihrer Meinung nach das Kopftuch. Das Kopftuch, das sich mutige Mädchen und Frauen im Iran vom Kopf reißen. Doch es gehe mehr als um das Recht, sich nach eigenem Willen zu kleiden.

Und so führt Amirpur in ihrer Rede die Zuhörer nicht nur auf eine Reise in die Geschichte des Iran, sondern auch in eine Diskussion über ein Regime. Ein Regime, das gerade diese religiöse Pluralität, die Reuchlin bereits vor mehr als 500 Jahren gefordert hat, vermissen lässt.

Fehlende Solidarität aus Deutschland: Amirpur zeigt sich verwundert

Zum Schluss drückt sie noch ihre Verwunderung darüber aus, wie wenig Solidarität sie hier in Deutschland mit den Protestierenden sehe. Warum gehen die Menschen hierzulande für die „Black Lives Matter“-Bewegung auf die Straße, nicht aber für die Iranerinnen, die jetzt gegen den Kopftuchzwang kämpfen?

Es könnte am Kopftuch liegen, ist ihre Vermutung. Man habe der deutschen Mehrheitsgesellschaft so eingetrichtert, dass es islamophob sei, gegen das Kopftuch zu sein. Jetzt sei diese Mehrheitsgesellschaft „völlig verloren“.

Wie kann man Solidarität ausdrücken, ohne generell gegen das Kopftuch zu sein? Dabei müsse man die Kopftuch-Debatte „im iranischen Kontext“ sehen, betont Amirpur. „Das Kopftuch hier ist eine vollkommen andere Diskussion.“

Sie würde sich jedoch wünschen, dass auch „deutsche Kopftuchträgerinnen sich stärker mit den iranischen Frauen solidarisieren“. Denn nur wer diesen Kampf nach Selbstbestimmung unterstütze, könne guten Gewissens das Recht fordern, hier selbstbestimmt ein Kopftuch zu tragen, ist ihre Botschaft.

Würdigung für Plädoyer für kulturellen Pluralismus

Auch wenn die politische Lage die Entscheidung für Amirpur hochaktuell macht: Die Gründe für die Auszeichnung waren andere. Die Stadt Pforzheim würdige sie an diesem Tage als Wissenschaftlerin im Sinne von Reuchlins Plädoyer für Toleranz und kulturellen Pluralismus, sagt OB Boch.

Erstmals werde eine Muslima ausgezeichnet, die sich in deutscher Sprache in der wissenschaftlichen Welt einen Namen gemacht hat und – ganz im Sonne von Johannes Reuchlin – die „Prinzipien der Aufklärung und des Dialogs hochhält und dem Fanatismus, Rassismus und Antisemitismus entgegenstellt“.

Katajun Amirpur ist derzeit die gewichtigste Stimme in der deutschsprachigen Islamforschung zum schiitischen Islam.
Christoph Strohm, Reichlinpreis-Beauftragter der Heidelberger Akademie der Wissenschaften

„Katajun Amirpur ist derzeit die gewichtigste Stimme in der deutschsprachigen Islamforschung zum schiitischen Islam“, erklärt Christoph Strohm, Reuchlinpreis-Beauftragter der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Amirpurs Beitrag zur Forschung und zum öffentlichen Verständnis des schiitischen Islams sei in der deutschsprachigen Welt zentral. Sie werbe nicht für den Iran oder die dortige Theokratie, sie wolle sich nicht zur Verteidigerin des Islam aufschwingen, betont Strohm.

Mit ihrer Form der Darstellung aber rufe sie die Leser dazu auf, die andere Seite beziehungsweise die anderen Seiten zu sehen. So erschließe sich Pluralität. Amirpur erfülle damit in ausgezeichneter Weise die Kriterien für die Vergabe des Reuchlinpreises.

Unter den mehr als 300 Gästen waren auch der CDU-Abgeordnete Gunther Krichbaum, der Vorsitzende der FDP/DVP-Fraktion und Landtagsabgeordnete Hans-Ulrich Rülke sowie die ehemaligen Pforzheimer Oberbürgermeister Christel Augenstein und Gert Hager.

Auch Mitglieder der Reuchlin-Familie nahmen an der Preisverleihung teil: George Reuchlin hatte bereits als 17-Jähriger 1955 an der ersten Reuchlinpreis-Verleihung teilgenommen.

Rami Suliman, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Pforzheim, indes war nicht anwesend. Er hatte im Vorfeld angekündigt, die Veranstaltung zu boykottieren.

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