Man stelle sich folgendes Szenario vor: Es ist Dienstag, kurz vor 23 Uhr. Es läuft die vierte Minute der Nachspielzeit im ersten EM-Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Gegner ist der Weltmeister aus Frankreich. Noch steht es unentschieden. Die Stimmung der Fans an den Bildschirmen ist auf dem Siedepunkt, als der Ball im Netz einschlägt. 1:0.
Den Weltmeister mit dem Abpfiff geschlagen, ganz Fußballdeutschland ist im Rausch. Nur für Patrick Seifert wäre das etwas unangenehm. Denn diesem Rausch müsste er dann in seiner Sportsbar in Wiernsheim Herr werden.
Es ist eine Crux mit der Europameisterschaft, die am Freitag beginnt, gerade für Gastronomen wie Seifert. Einerseits sind Sportsbars auf die Einnahmen aus der Fußballübertragung angewiesen. Andererseits darf es auch nicht zu gut laufen, denn die Corona-Hygienemaßnahmen müssen gewahrt bleiben. „Wir wollen es nicht übertreiben“, sagt er.
Gastronom schult Mitarbeiter für brenzlige Situationen
Pünktlich am Freitag eröffnet sein Paselino wieder, die Mitarbeiter wurden noch einmal geschult. „Und zwar für genau solche Situationen“, sagt er. „Dass sie dann dazwischen gehen, wenn sich die Leute in den Armen liegen.“ Dass das Public Viewing im Pforzheimer Enzauenpark wie berichtet ausfällt, könnte in Wiernsheim für einen erhöhten Stresspegel sorgen.
„Wir wissen einfach nicht, was wird. Ich habe mit Hygienekonzept 120 Plätze drinnen. So, wie ich meinen Enzkreis kenne, reicht das normalerweise. Aber eben auch, weil es immer das große Public Viewing gab.“
Wir wären auf 100 Gäste begrenzt, dafür alles aufzubauen macht keinen Sinn.Frank Daudert, Biergartenbetreiber
Das findet in diesem Jahr aus mehreren Gründen nicht wie gewohnt statt. Zum einen sagte Biergartenbetreiber Frank Daudert selbst, dass er genau diese Jubelmomente kaum kontrollieren könne. „Das riskiere ich nicht. Außerdem wären wir auf 100 Gäste begrenzt, dafür alles aufzubauen macht keinen Sinn“
Und dann wird ihm in Pforzheim die Entscheidung ohnehin abgenommen. Am Mittwoch lag der Inzidenzwert Pforzheims über sieben Tage laut Land Baden-Württemberg bei exakt 50,0, und damit hauchdünn zu hoch. Damit waren Lockerungen ab Dienstag bereits ausgeschlossen. „Da lässt die Corona-Verordnung leider keinen Spielraum“, erklärt Enzkreis-Pressesprecher Jürgen Hörstmann.
Viel Kontroll-Aufwand und Risiko für Gastronomen im Enzkreis
Im Enzkreis und somit bei Patrick Seifert gilt allerdings schon die 1-Uhr-Regelung, da man konstant unter der Inzidenz 50 liegt. Er empfiehlt daher, gerade bei Deutschland-Spielen, vorher zu reservieren. Die Gäste dürfen dann an kleinen Tischen zusammensitzen. Einlass gibt es nur gemäß den „3Gs“: genesen, getestet oder geimpft. Improvisieren müsse er aber, wenn Deutschland ins Viertelfinale oder weiter kommt.
Wir haben eine Verantwortung.Patrick Seifert, Paselino Sportsbar in Wiernsheim
Outdoor wäre noch Platz für weitere 120 Gäste. „Und dann würden draußen die Leute Schlange stehen. Auch solche, die nicht unter die 3Gs fallen.“ Warum er sich diesen Wahnsinn überhaupt antue? „Wir haben eine Verantwortung“, sagt er. Das bedeute einerseits Kontrolle der Corona-Regeln, aber eben auch „dass die Leute wieder rausgehen können, jetzt, wo sie es wieder dürfen“.
Damit stellt er eine Ausnahme dar, wie Henry Wagner vom Gastronomieverband Dehoga im Enzkreis betont: „Ich kenne niemanden, der das wagt.“ Er betont aber auch, dass innerhalb des Enzkreises keine größeren Absprachen mit dem Verband stattgefunden hätten.
Polizei will bei Fußball-EM kein Spielverderber sein
Die Polizei teilte bereits mit, man wolle nicht „Spielverderber“ sein. Man stehe „dem friedlichen Feiern, im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten, nicht im Wege“. Aber: „Bei grob verkehrswidrigem Verhalten (als Beispiel Trunkenheitsfahrt) oder zur Verhinderung und Unterbindung von Gefahren für Leib oder Leben von Personen (zum Beispiel Körperverletzung) sowie bedeutenden Sachwerten (beispielsweise Sachbeschädigung) wird die Polizei konsequent einschreiten.“
Dass es zu solchen Szenen eher weniger kommen wird, glaubt Brauer Michael Ketterer. Und zwar weniger aus sportlichen Gründen. „Wir haben jetzt ein Jahr lang gelernt, uns nicht um den Hals zu fallen. Ich glaube nicht, dass wir das plötzlich alle vergessen.“ In seiner Brauerei jedenfalls werde es diesmal keine Fußballübertragung geben.
Und auch so nehme er die halbgare Europameisterschaft mit einem Achselzucken hin. Auch, weil er nicht der Lieferant von Dauderts Biergarten sei. „Für uns ist das nicht das wichtigste Geschäft“, sagt er. Das sei der Amateurfußball. „Wenn der FC Nöttingen eine Saison lang nicht spielen kann, tut mir das mehr weh“, sagt er.