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Pforzheimer Beratungsstelle hilft bei Störungen

Übergewichtig und isoliert: 58-Jähriger aus Pforzheim kämpft gegen Esssucht

Essstörungen verbindet man meistens mit jungen Frauen in der Pubertät. Aber es sind auch Männer davon betroffen, wie der 58-jährige Pforzheimer Mathias.

ARCHIV - Zum Themendienst-Bericht vom 11. Oktober 2019: Übergewicht begünstigt Diabetes. Wer rechtzeitig gegensteuern will, sollte seinen Body-Mass-Index kennen. Foto: Frank Leonhardt/dpa/dpa-tmn - Honorarfrei nur für Bezieher des dpa-Themendienstes +++ dpa-Themendienst +++ | Verwendung weltweit
Zu dick. Übergewicht begünstigt Diabetes und Gelenkerkrankungen. Die Sucht zu essen, führt Betroffene häufig in die Isolation. Foto: Frank Leonhardt picture alliance/dpa

Dick war Mathias schon zu Beginn seiner Schulzeit. Als 15-Jähriger brachte er 100 Kilo auf die Waage, aber das machte ihm nichts aus, und gemobbt wurde er wegen seines Übergewichts nie. Er war „der Beschützertyp“, wie sich der 58-jährige Pforzheimer erinnert. In der Pubertät fiel ihm auf, dass die Mädchen einen Bogen um ihn machten.

„Da habe ich mich wie ein Außenseiter gefühlt.“ Mathias (Name von der Redaktion geändert) bezeichnet sich als introvertiert. „Ich bin keiner, der viel spricht.“ Es wundert ihn selbst, dass er nun bereit ist, von seinem Leben zu erzählen. Es ist ein Leben, das von der Sucht nach Essen dominiert wird. „Man findet immer einen Grund zu essen.“

Bei Männern ist die Scham größer

Mathias gehört zu einer Handvoll Männer, die ihre Essstörung zur Pforzheimer Beratungsstelle von Plan B in der Schießhausstraße geführt hat. Hinter Essstörungen stehen häufig die Diagnosen Anorexie oder Bulimie. Gemeinhin schreibt man sie jungen Frauen zu. Aber Essstörungen sind längst kein reines Frauenthema mehr.

„Es gibt sehr wohl essgestörte Jungs und Männer, aber wir erreichen sie schlecht“, sagt Anke Wohlbold, die in der Anlaufstelle Frauen und Männer betreut. Wie andere Fachleute geht sie von einer hohen Dunkelzimmer bei Männern aus. „Ihre Scham ist viel größer“, vor allem, wenn es sich um ein aus Männersicht „frauentypisches“ Problem wie Anorexie und Bulimie handle.

Am ehesten kämen adipöse Männer – wenn der Leidensdruck aufgrund von Gelenkproblemen und Diabetes groß genug ist. Erwachsene Männer anzubinden, sie bei der Stange zu halten, sei sehr schwierig.

Männergruppe wurde drei Monate betreut

Mathias wäre gerne dabei geblieben. Auf Anraten seiner Krankenkasse besuchte er im vergangenen Jahr nach Einzelgesprächen die von Wohlbold betreute Männergruppe, eine Kooperation mit dem Jobcenter. Über mehrere Monate trafen sich drei Mal wöchentlich sechs bis acht übergewichtige Männer.

Neben dem therapeutischen Gespräch bestand der Kurs aus Ernährungsberatung und gemeinsamer Bewegung. Der Folgekurs, zu dem Mathias sich angemeldet hatte, war schon schwächer besucht, ein dritter wurde wegen zu geringer Teilnehmerzahl nicht finanziert.

„Zu anstrengend, die Teilnehmer müssen sich viel bewegen und können das wegen ihrer gesundheitlichen Probleme nicht“, nennt Wohlbold einige Gründe für das nachlassende Interesse.

Oft leben es die Eltern vor: Falsche Ernährung, Essen vor dem Fernseher

Oft lebten es die Eltern bereits vor: Falsche Ernährung, kein Sport, gegessen wird vor dem Fernseher. So wuchs auch Mathias auf. Nach der Mittleren Reife lernte er Werkzeugmacher. Zu der Zeit wog er 125 Kilo und machte Bodybuilding im Fitnessstudio.

„Körperlich ging es mir prima.“ Er war um die 30, als ein Nachbar ihn verkuppeln wollte. Er hörte, wie die betreffende Frau über ihn sagte: „Der wäre gar nicht so schlecht. Aber der Bauch...“ Wie eine Klatsche sei das gewesen. „Da hatte ich es schwarz auf weiß.“ Er nahm ab, sieben Kilo, manchmal mehr. Und nahm wieder zu.

Wenn ich an mir runter guckte, war der Bauch immer noch gleich.
Mathias, leidet an Esssucht

Mit Ende 30 hatte Mathias seine erste Freundin. Der war sein Aussehen egal, aber sie hatte noch andere Männer. Eines Tages erwischte er sie mit einem anderen. „In unserem Bett.“ Es kam zum Gerangel. Die Frau rief die Polizei. Es folgte eine Phase seines Lebens, in der er alles verlor: Freundin, Wohnung, Arbeitsplatz.

Er landete für ein dreiviertel Jahr in der Psychiatrie und hörte auf zu essen. „Ich wollte nicht mehr.“ Als er wieder herauskam, wog er 30 Kilo weniger. „Aber wenn ich an mir runter guckte, war der Bauch immer noch gleich.“

Heute hat Mathias Arbeit – und gesundheitliche Probleme

Es ging ihm schlecht, er lebte von Hartz IV, bis er vor einem Jahr von einem Kumpel den Tipp zu seiner jetzigen Stelle bekam. Die Arbeit in dem Betrieb macht ihm Spaß, es könnte nicht besser sein, sagt Mathias. Aber dem stark Übergewichtigen machen entzündete Knie und Diabetes zu schaffen und hindern ihn daran, sich mehr zu bewegen, was er dringend müsste.

Momentan hat er sein Höchstgewicht von 167 Kilo. Mit seiner Selbsthilfegruppe im Helios Klinikum hat er sich unterhalten über die Möglichkeit einer Magenverkleinerung. Dann dürfte er so gut wie gar nichts mehr essen. „Es schmeckt mir aber so gut“, sagt Mathias und lächelt, fast entschuldigend. Er kocht sich selbst, „nur das Beste“, er isst gerne Fleisch und Reis, ausschließlich abends.

Als Mann braucht man keine Hilfe.
Mathias, leidet an Esssucht

Die Gruppe in der Schießhausstraße hat dem Pforzheimer gezeigt, dass er nicht alleine ist. Einige sind dicker als er. Etwa jener junge Mann, der 200 Kilo wiegt und sich kaum bewegen kann. Beraterin Wohlbold erzählt von einem alleinerziehenden Vater, der plötzlich die Grundthematik seines Lebens als Übergewichtiger begriff: „Er kann seinen kleinen Kindern nicht hinterherlaufen.“

Die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit forciert die Isolation, in der die meisten Betroffenen leben. „Als Mann braucht man keine Hilfe“, bringt Mathias eine Haltung auf den Punkt, die Wohlbold als typisch bezeichnet. Mathias selbst hat begriffen, dass er Hilfe braucht. Er ist entschlossen, wieder abzunehmen, aber es fehlt ihm der Ehrgeiz.

Fachfrau rät zu Klinikaufenthalt und ambulanter Anschlusstherapie

Er beschreibt den ungeheuren Kraftakt, den es braucht, um weniger zu essen. Wohlbold, die weiter Kontakt zu ihrem Klienten hält, rät ihm zu einem längeren Klinikaufenthalt und ambulanter Therapie im Anschluss. „Er müsste andere Strukturen lernen und dran bleiben, er müsste schwimmen, das schont die Gelenke“, sagt sie.

Zwei Mal schon sei sie mit Mathias an dem Punkt gewesen. „Aber schnell geht gar nichts.“ Es ist ein langer Weg, sagt Wohlbold und das weiß auch Mathias.

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