Als die Stimme aus dem Lautsprecher einen Falschparker vermeldet, hält Kristina Vogel kurz inne. „Kann da mal jemand ein Knöllchen dranhängen“, ruft sie ihrem Publikum zu und schmunzelt. Die Zahl der Zuhörer ist zu diesem Zeitpunkt schon deutlich größer als zu Beginn des Vortrags. Immer wieder unterbrechen Passanten ihren Streifzug durch Halle 3 der Messe Karlsruhe, um den Geschichten zu lauschen, die die junge Frau im Rollstuhl da erzählt.
Witzige Anekdoten sind dabei. Wie jene, als die kleine Kristina eine Münze wirft, um zu entscheiden, ob sie künftig zum Radsport oder zum Tanzen gehen will. Oder eine andere, in der sie bei ihrem ersten Wettkampf im Oval ihren Trainer fragt, ob sie nun rechts- oder linksherum fahren müsse. Oder wie sie viele Jahre später ohne Sattel zu ihrem zweiten Olympiasieg fuhr.
Es gibt aber auch bewegende, traurige Passagen. Allen voran jene, die gewissermaßen erklärt, warum Vogel an diesem Donnerstagnachmittag in Karlsruhe auf der Rehab-Messe spricht und nicht in irgendeinem Bahnrad-Stadion Trainingsrunden im Höllentempo abspult, wie sie das vor jenem 26. Juni 2018 fast täglich tat.
Es ist immer, was wir daraus machen.Die frühere Bahnradfahrerin Kristina Vogel
Ziemlich genau vier Jahre ist es her, dass Vogel ihr Rad gegen einen Rollstuhl eintauschen musste. Eine Kollision mit einem niederländischen Sportler in Cottbus kostet sie fast das Leben. „Max, das mit dem Laufen wird nie wieder was“, habe sie damals ihrem Kollegen Maximilian Levy zugeraunt. Vogel sollte recht behalten.
Beim täglichen Training geht es für die zweimalige Olympiasiegerin und elffache Weltmeisterin danach nicht mehr darum, sich auf die nächste Medaillen-Hatz vorzubereiten, sondern ins Leben zurückzufinden. Ihr eiserner Wille und ihre positive Lebenseinstellung helfen ihr dabei.
„Es ist immer, was wir daraus machen“, gibt die 31-Jährige am Ende ihres Vortrages mit dem Titel „Lieber Querschnitt als Durchschnitt“ ihren Zuhörern mit auf den Weg. Was das heißt, hat sie in den vergangenen vier Jahren bewiesen. Die abrupte Abkehr vom Leistungssport versuchte sie als Vorteil zu nutzen.
Stadträtin, Buchautorin, TV-Kommentatorin: Vogel bleibt umtriebig
Auf einer Liste hält sie nach dem Unfall Dinge fest, die sie noch nie gemacht hat, aber unbedingt mal ausprobieren möchte. Haken kann sie einige setzen. Etwa nachdem sie mit dem früheren Turner Eberhard Gienger einen Tandemsprung wagte. Oder nachdem sie Musiker Clueso bei einem Konzert backstage traf.
„Die Liste gibt’s noch und die hört erst auf, wenn ich den Löffel abgebe“, verrät sie später im BNN-Gespräch. Und auch abseits der Liste bleibt Vogel umtriebig. Sei es als Trainerin bei der Bundespolizei, als Markenbotschafterin wie auf der Messe in Karlsruhe für ein neues teilbares Rollstuhlrad oder als Stadträtin in Erfurt.
„Da bin ich eher die Ruhige, die gerne zuhört und andere Perspektiven kennenlernt. Aber wenn’s mich nervt, dann haue ich auf den Tisch“, stellt sie klar. Im vergangenen Jahr erfüllt sich Vogel ihren Traum von den dritten Olympischen Spielen – als TV-Kommentatorin. Zudem porträtiert sie in der ZDF-Reihe „Vogelperspektive“ regelmäßig prominente Sportler. 2021 erscheint Vogels erstes Buch. Der Titel: „Immer noch ich. Nur anders“.
Nach Vogels Vortrag kommen die Selfie- und Autogrammjäger
Sie sei eben auch nach ihrem Unfall die gleiche geblieben. Nur die Umstände, die hätten sich eben verändert. Und diese bescheren ihr manchmal auch dunkle Stunden und schwere Momente. Etwa als sie beim Clueso-Konzert erkennt, dass sie nicht einfach drauflos tanzen kann, wie sie es gerne möchte. Oder wenn es sie eine Stunde kostet, die nächste Bahnreise zu buchen und diese dann keine spontane Planänderung erlaubt.
Trotzdem – oder vermutlich gerade deshalb – ist Vogel für viele Menschen mit Behinderung, und nicht nur für die, ein Vorbild. Das zeigt sich auch am Donnerstagnachmittag in Karlsruhe. Nach ihrem Vortrag, der nächste hat da bereits begonnen, umringen sie zahlreiche Menschen, einige davon wie sie im Rollstuhl, und fragen nach Autogrammen und Selfies.
Später, nachdem sie lächelnd und ohne Eile alle Anfragen erfüllt hat, sagt sie noch einen Satz, der in Erinnerung bleibt – womöglich länger als so manches Handyfoto: „Glück ist ein Stück weit eine Entscheidung, ob man es will oder nicht, und ich habe halt einfach Bock drauf.“