
Es ist schon erstaunlich, wie wenig Zutrauen die schwarz-gelben Anhänger ins fußballerische Leistungsvermögen der von ihnen ins Herz geschlossenen Mannschaft zu haben scheinen.
„Gewinnen die Bayern“, prophezeit der Kollege beim kurzen Plausch auf dem Gang, „ist die Meisterschaft entschieden.“ Zugunsten der (Ruhm-)Reichen aus der Säbener Straße logischerweise. „Wenn die Borussia gewinnt“, fügt der BVB-Sympatisant hinzu, „ist die Meisterschaft nicht entschieden: Dann machen es trotzdem die Bayern.“ Fan-Fatalismus der reinsten Form.
Indes: Der vorauseilende Pessimismus ist mehr oder weniger historisch begründet. Immer dann, wenn der Titel für die Dortmunder zumindest halbwegs in Reichweite und eine Party am Borsigplatz nicht völlig realitätsfern schien, reckten am Ende doch die verhassten Bajuwaren die Schale vom Rathausbalkon oberhalb des Münchener Marienplatzes.
Sancho irrt sich gewaltig
Die Dortmunder Tristesse ist schnell mit Fakten unterfüttert: Abgesehen vom 2:2 in der Hinrunde – nach dem Treffer von Anthony Modeste in Minute 90 plus fünf registrierten die Seismografen rund um die Südtribüne ein Amplituden-Feuerwerk – gingen die vergangenen acht (!) Spiele gegen die Roten verloren.
Der letzte Sieg, ein vergleichsweise unbedeutendes 2:0 im Supercup, datiert vom 3. August 2019. Es war das erste Spiel von Nico Kovac als Bayern-Trainer – und in der Retrospektive der Anfang seines Endes. Auf der anderen Seite frohlockte Jadon Sancho: „Das kann unser Jahr werden.“ Wie sehr man sich doch irren kann.
Gebissen hat er nicht, nur geknabbert. Jedenfalls hatte ich kein Loch im Hals.Heiko Herrlich, ehemaliger Spieler von Borussia Dortmund
Nun aber besteht tatsächlich Hoffnung. Selten bis nie zuvor war die Ausgangslage für die Borussia besser. Nicht nur aufgrund des einen Punkts, den der BVB aktuell vor dem bisherigen Dauer-Spitzenreiter liegt. Die Schwarz-Gelben wirken gefestigt wie lange nicht. Die Mentalitätsfrage, geraume Zeit das ultimative Reizwort bei der Borussia, sie wird kaum noch gestellt. Trainer Edin Terzic, seine Mannschaft und die Kurve – das klingt wieder nach „echter Liebe“.
Kahn „knutscht“ Herrlich
Dieser Gemütszustand ist im Übrigen schon lange Teil von Rendezvous der beiden Top-Clubs. So wie zwischen Oliver Kahn und Heiko Herrlich. Das ungleiche Paar liebkoste sich beim Kracher 1999. Kahn, damals noch kein Titan, sondern nur Bayern-Keeper, „knutschte“ den Hals des Dortmunder Angreifers. „Gebissen hat er nicht, nur geknabbert. Jedenfalls hatte ich kein Loch im Hals“, gab Herrlich später zu Protokoll.
Durchaus intim wurde es auch zwei Jahre später, beim 1:1 am 7. April 2001. Damals gingen die Akteure besonders häufig auf Trikotfühlung: elf Gelbe Karten (neun für die Bayern), eine Ampelkarte für Bixente Lizarazu sowie direkte Platzverweise für Stefan Effenberg und Evanilson stehen in den Annalen des Klassikers. „Ich habe noch nie ein Spiel gesehen, in dem der Schiedsrichter zwischen der 1. und 95. Minute über 50 Fehler macht“, grantelte Uli Hoeneß hernach.
Auch in späteren Duellen leuchtete das Gesicht des pausbackigen Patrons nicht selten in Signalrot. Wahlweise fletschte auch Jürgen Klopp immer mal wieder seine mittlerweile brillantweiß gebleichten Beißer.
Thomas Tuchel eifert Hansi Flick nach
An diesem Samstag dürfen Fußballfans erneut auf jede Menge Spektakel hoffen. Wie das Top-Spiel dieses 26. Spieltags ausgeht, scheint indes bereits klar. Und erklärt in gewisser Weise, warum der eingangs erwähnte BVB-Anhänger partout nicht an den ganz großen Wurf seines Teams glauben will. Die Parallelen sind einfach zu frappierend.
Am 3. November 2019, exakt sechs Tage vor dem Kracher gegen den BVB, gaben die Bayern ihrem Coach Kovac den Laufpass, Hansi Flick übernahm. Acht Tage vor dem Kräftemessen der Branchengrößen wurde nun Julian Nagelsmann geschasst. Thomas Tuchel, Ex-BVB-Trainer und Askese-Aficionado, will es seinem Vor-Vorgänger gleichtun: Flicks erstes Spiel gewannen die Bayern mit 4:0. Und holten am Ende das Triple.