Zuverlässig zur Pfingstzeit stoßen HSV-Fans den bei Hansa Rostock beschäftigten Torwarttrainer Dirk Orlishausen auf das bitterste Standbild seiner Fußballkarriere. Bei Instagram posten sie, wie sich der Ball über die KSC-Mauer hinweg ins vom bärtigen Torhüter aus entfernte Eck senkt, was jenen älter aussehen lässt als 32.
„Wo ist denn der Rouwen?“, sei ihm durch den Kopf geschossen, als der gechippte Ball zum 1:1 einschlug, erinnert sich Orlishausen im Gespräch mit den BNN.
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Fünf Jahre ist das her, er habe seinen Frieden mit dem abrupten Wendepunkt im dann mit 1:2 nach Verlängerung verlorenen Relegationsrückspiel gemacht. „Immerhin kann ich so eine nette Anekdote erzählen, wie weit ich es geschafft habe.“ Zwei, drei Minuten weit weg war die Bundesliga für ihn. Für einen, der mit 26 Profi wurde, nicht schlecht.
Im Hinspiel: zu christlich, zu ungenau
Nach Pleite in der Verlängerung, in der Nicolai Müller den HSV in den siebten Himmel gehievt hatte, saß Orlishausen mit Pierre-Michel Lasogga im Doping-Raum. Der Stürmer erzählte dem geknickten Keeper, dass im Hinspiel alle beim HSV den KSC unterschätzt hätten.
Im Volkspark hatte Rouwen Hennings (4.) getroffen, Ivo Ilicevic (73.) dann zum 1:1. Der Zweitliga-Dritte war besser, aber: zu christlich, zu ungenau. Der im Strafraum gefoulte Reinhold Yabo wollte nicht fallen, auch klatschte der Ball zweimal ans Torgestänge des HSV.
Aufsteiger-T-Shirts liegen schon bereit
So kommt dieser 1. Juni 2015, Showdown im Wildpark. 20.45 Uhr. Die bange Vorfreude ist bis zum Bundestrainer Joachim Löw auf der Tribüne greifbar. Der KSC führt dank Yabo, was dem Außenseiter reicht. Neben der KSC-Reservebank liegen Aufsteiger-T-Shirts bereit. HSV-Coach Bruno Labbadia kaut einige Meter weit weg auf den Lippen.
Orlishausen bekommt nichts mit vom Randgeschehen. Seine Aufmerksamkeit gilt jetzt, bei Anbruch der Nachspielzeit, zwei, drei Minuten von der Bundesliga entfernt, dem Geschehen hinter der Spielertraube 18 Meter vor ihm. Dort, wo sich Marcelo Diaz und Rafael van der Vaart um den Ball aufhalten.
Manuel Gräfe hatte diesen Freistoß gepfiffen, als beabsichtigte er einen schlechten Scherz. Slobodan Rajkovic hatte dem sich wegdrehenden Jonas Meffert den Ball aus kurzer Distanz an den Oberarm geschossen. Und Meffert? Wittert zunächst kein Ungemach, er ärgert sich, da der Ball von ihm zu Dimitrij Nazarov getropft und die Konterbahn frei war.
Diaz verlockt Hennings
Orlishausen schaut den zur Verteidigung zurückgeeilten Stürmer Hennings an, sie nicken einander zu. 14 Tage zuvor hatte es in einer identischen Szene auf dem Weg zum 2:0 in Braunschweig wunderbar geklappt. Er, Orlishausen, ein Meter weiter links als optimal auf eine Sichtlücke fixiert, Hennings dafür den fernen Pfosten absichernd.
Dass der Stürmer dort dann doch fehlt, liegt an Diaz. Wirklich jeder hatten mit dem Anlauf des Linksfußes van der Vaart gerechnet und nicht mit dem einige Meter weiter links stehenden, Ball-nahen Chilenen. Im Moment von dessen Lupfer reagiert Hennings mit einem Schritt und steht im Niemandsland zwischen Tor- und Fünferlinie.
"Tomorrow, my friend, tomorrow"
Diaz verbreitet später, er habe den Schützen van der Vaart mit den Worten „Tomorrow my friend, tomorrow“ verhindert. An der Elbe wird diese Frechheit Kult, T-Shirts und DVDs mit dem Spruch verkaufen sich gut. Erst 2017 wird der Niederländer verraten, dass er diesen Satz von Diaz nie gehört habe. Doch er hält sich als Legende.
Drei haben aufgehört
Im Oberhaus spielen aus der damaligen Mannschaft nur Hennings (Fortuna Düsseldorf), Manuel Gulde (SC Freiburg) und Philipp Max (FC Augsburg). Yabo strebt mit Arminia Bielefeld dorthin, Daniel Gordon kämpft mit dem KSC gegen den Abstieg aus Liga zwei wie Enrico Valentini mit Nürnberg und der Trainer Kauczinski mit Dynamo Dresden.
Dennis Kempe und Nazarov erwarten den KSC nächste Woche sorgenfrei in Aue, Gaétan Krebs hat still seine Karriere bei der Spvgg Elversberg beendet. Hiroki Yamada kickt wieder bei Jubilo Iwata in seiner japanischen Heimat, Manuel Torres in Zypern bei AEL Limassol. Martin Stoll, für Krebs kurz vor dem 1:1 eingewechselt, ist Nachwuchstrainer beim KSC.
Meffert kann dem KSC noch helfen
"Das war nie Hand“, hörte Meffert Hauke Wahl, seinen Mitspieler bei Holstein Kiel, kürzlich sagen: „Erst wusste ich nicht, was er meinte. Dann wurde klar: Er hatte in der Quarantäne-Zeit Langeweile und die Bilder bei Youtube geguckt. Dieses Spiel wird mich immer begleiten“, erzählt der Mittefeldspieler.
Die Nachwirkungen des Relegations-Dramas waren für den KSC brutal. Es war der Anfang vom Ende einer Mannschaft, die Markus Kauczinski danach noch mal auf Platz acht führte. Dann verließ der Trainer den Club. Seither sieht der KSC die Bundesliga aus weiter Ferne.
Meffert? Könnte dem KSC aktuell helfen. Mit Kiel trifft er noch auf den HSV, vor allem auf alle KSC-Konkurrenten: Wehen, Dresden, Osnabrück, Nürnberg. Er glaube fest an den KSC. Gräfe? Den habe er seither nur im Fernsehen wiedergesehen. „Jedesmal kriege ich schlechte Laune. Ich weiß noch, wie er vor der Verlängerung zu mir kam und meinte, dass er die Bilder gesehen und alles korrekt gemacht habe“, erzählt Meffert.
Nein. Dessen Freund werde er nie mehr. Nicht mal „tomorrow“.