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Ex-FIS-Renndirektor Günter Hujara aus Neuenbürg

Debatte um Sicherheit im Skisport: „Die Kurssetzung wird viel zu sehr unterschätzt“

Henrik Kristoffersen tobte nach den schweren Stürzen im Riesenslalom von Adelboden. Die Kurssetzung sei „lebensgefährlich“ und „komplett kopflos“ gewesen. Damit trat der 26-jährige Norweger eine Diskussion los, „die seit Jahren dieselbe ist“, erklärt der ehemalige FIS-Renndirektor Günter Hujara aus Neuenbürg im Interview.

epa04128402 FIS race director Guenter Hujara skies through the guard of honour after the men's Slalom race at the FIS Alpine Ski World Cup finals, in Parpan-Lenzerheide, Switzerland, 16 March 2014. EPA/JEAN-CHRISTOPHE BOTT ++ +++ dpa-Bildfunk +++
Spalier aus Ski: Nach Abschluss der Weltcupsaison 2014 in Lenzerheide (Schweiz) legte Günter Hujara sein Amt nieder – und wurde von Athleten, Trainern und Verantwortlichen standesgemäß verabschiedet. Foto: Jean-Christophe Bott/dpa

Die Sicherheit der Rennläufer war Günter Hujaras Mission. 21 Jahre lang fungierte der heute 68-jährige Neuenbürger als Renndirektor des Internationalen Skiverbands FIS im alpinen Skirennsport, bis er sein Amt nach den Olympischen Spielen in Sotschi 2014 niederlegte.

Mittlerweile verfolgt er die Rennen aus seiner Schwarzwälder Heimat – und ist doch nach wie vor nah dran. Mit unserem Redaktionsmitglied Sandra Hennig sprach Hujara über die aktuelle Leistungsfähigkeit der deutschen Skisportler, die wieder aufgeworfene Sicherheitsfrage und die anstehende alpine Ski-WM in den Dolomiten.

Herr Hujara, gut drei Jahre nach Felix Neureuthers letztem Sieg gibt es in Linus Straßer wieder einen deutschen Slalom-Gewinner.
Hujara

Es freut es mich sehr für die deutsche Mannschaft, dass Linus zu seiner eigentlichen Stärke zurückgefunden hat. Er hat ein riesiges Vermögen, hatte aber eine zweijährige Durststrecke, in der seine Leistungen instabil waren. Jetzt ist der Durchbruch da und ich wünsche ihm, dass er sich weiter durchsetzen wird. Es ist ein Zeichen dafür, dass in der Mannschaft gut gearbeitet wird.

Heißt, Sie sehen trotz der Abgänge von Viktoria Rebensburg, Tina Ackermann oder auch Dominik Stehle in der deutschen Mannschaft keine großen Lücken klaffen?
Hujara

Wir hatten in Deutschland eigentlich noch nie die Situation, dass wir mehrere richtige Top-Stars nebeneinander hatten. Das sind immer Ausnahmejahre. Man hat in der Nachwuchsförderung keine Masse mehr, die Möglichkeiten sind vermehrt geschwunden. Deshalb muss man jedes Pflänzchen, das sich irgendwo zeigt, über Jahre hinweg regelrecht hegen und pflegen. Umso mehr freut es mich, dass Linus Straßer sich jetzt durchsetzt und Deutschland wieder einen Siegläufer hat – zumal Thomas Dreßen ja verletzungsbedingt ausfällt.

Früher haben Sie solche Erfolge als Renndirektor hautnah an der Strecke miterlebt. Wie sieht das heute aus?
Hujara

Ich verfolge die Rennen immer! Wenn ich sie nicht aktuell schauen kann, sehe ich mir die Läufe einzelner Athleten nachträglich an, um auf dem Stand der Dinge zu bleiben. Die Weltspitze ist so eng, da geht es um höchste Präzision. Ein Slalomläufer hat 60 Fehlerquellen vor sich. Der beste Läufer kann da gewinnen und dann auch wieder nach hinten fallen, wie zuletzt Henrik Kristoffersen.

Präzision und Kristoffersen sind gute Stichwörter. Der Norweger hat nach schweren Stürzen dreier Athleten in Adelboden Kritik geäußert und die Kurssetzung als „lebensgefährlich“ bezeichnet. Mit welchen Gefühlen nehmen Sie solche Aussagen wahr?
Hujara

Genau dieselben Aussagen und Argumente hat es auch zu meiner Zeit schon gegeben. Wir haben sehr, sehr viel getan in Sachen Sicherheit. Die Kurssetzer sind ja die Trainer, die ausgelost werden. Das sind die, die immer glauben am besten zu wissen, wie der Sport läuft und am besten auf die Sicherheit der Rennläufer achten. Sie sind aber auch die ersten, die hochspringen, wenn etwas passiert und dann Missstände monieren. Diese Kurssetzung, die schnell und noch schneller werden kann – das ergreifen manche Trainer als taktisches Mittel –, wird viel zu sehr unterschätzt. Wir haben Kurssetzungen manchmal abgelehnt, trafen dann aber auf riesige Proteste von Läufern und Trainern.

Die Hänge an sich sind also kein Problem, lediglich die Kurssetzung?
Hujara

Es ist ein Zusammenspiel, auch mit dem Material. Die Läufer trainieren ein ganzes Jahr, damit sie das Potenzial aus jedem Ski herausholen. Da geht es um Geschwindigkeit und Grip, das ganze System „Rennläufer“. Es treten Situationen auf, in denen der Läufer den Kräften, die da wirken, nicht mehr genügend entgegensetzen kann. Dann kann es zu Stürzen kommen – und bei diesen Geschwindigkeiten sind sie oft mit Dynamiken aufgeladen.

Kann man also sagen, dass das Material den Athleten überholt hat?
Hujara

Das ist auf alle Fälle so. Nur ist das ein Wirkungskreis. Der Rennläufer holt mit seiner Skifirma das Optimum aus dem Material heraus. Da wird der Grenzbereich immer weiter nach außen geschoben. Das ist im Rennlauf eben vorgegeben: Der Sieger ist derjenige, der die schnellste Zeit zwischen Start und Ziel fährt. Da fragt niemand mehr, wie er das bewältigt hat. Das forciert den ganzen Prozess.

Sie selbst haben zahlreiche Sicherheitsmaßnahmen eingeführt und auch den Airbag entwickelt.
Hujara

Ich habe am Anfang sehr viel Gelächter geerntet, als ich sagte, dass wir so etwas brauchen. Skisport ist ein Individualsport, bei dem der Rennläufer versucht, aus seinen Möglichkeiten das Optimale herauszuholen. Die Argumentation ist häufig: Der Airbag behindert mich in meiner Bewegungsfreiheit. Vielleicht löst er aus, wenn ich ihn gar nicht brauche – was eigentlich ein hirnrissiges Argument ist, weil es Leben retten kann. Der Aufwand, der im Sicherheitsbereich betrieben wird, ist immens hoch – aber das heißt nicht, dass es deshalb keine Stürze mehr gibt. Das weiß auch jeder Rennläufer. Er weiß, was es bedeutet, wenn er an den Start geht und er weiß, weshalb er den Helm aufsetzt.

Muss man dann an der Mündigkeit und am Verstand der Athleten zweifeln, wenn sie aus Gründen der Bequemlichkeit auf den Airbag verzichten und unten sagen, das sei lebensgefährlich?
Hujara

Das würde ich gerne unkommentiert so stehen lassen. Nur so viel: Immer dann, wenn es um Menschenleben geht und beim höchsten Risiko die direkte Konsequenz der Tod ist – ob das jetzt in der Corona-Pandemie ist oder im Skirennsport –, dann darf man nicht rumspielen. Es ist eine etwas schizophrene Welt. Man hat die Jünger, die das Risiko hoch loben. Wenn dann aber das, was physikalisch vorgeschrieben ist, eintrifft, dann sind diejenigen die größten Kläger.

Wäre es eine Lösung, den Kalender auszudünnen, um den Läufern zumindest mehr Zeit zur Regeneration zu geben?
Hujara

Diese Diskussion ist so alt wie der Weltcup selbst. Erst konnte man nicht genügend Weltcups bekommen und dann wurde es lukrativ, da will jeder – Verbände, Sponsoren, Ligen – auf den Zug aufspringen und seine Interessen in den Vordergrund stellen. Das ist in jeder Sportart so, auch in der Fußball-Bundesliga. Da wird gesaugt und gesaugt und dann wundert man sich, dass eine Top-Mannschaft wie Bayern München plötzlich anfällig wird. Alle arbeiten aber mit dem gleichen Material, den Sportlern, und das ermüdet.

Hat man aber nicht dem Sportler gegenüber die Verantwortung, in so einem Fall die Reißleine zu ziehen?
Hujara

Sicherlich. Es gibt Athleten und nationale Verbände, die sagen: Da mache ich nicht mit. Die Großen haben das immer getan – aber da ist eben die Frage, wer kann es sich erlauben? Ich möchte die Schuld nicht den Athleten geben, sondern verdeutlichen, dass für jeden innerhalb dieses Systems neben der Verantwortung auch Zwänge bestehen. Aber wenn ein System offensichtlich überlädt, muss es auch Menschen geben, die sich hinstellen und sagen: ‘Hey, wir brauchen eine Bremse.’ So lange es allerdings bequemer ist zu beschleunigen, als zu bremsen, und die Beschleunigung mehr gelobt wird als das Bremsen, wird das nicht passieren.

Im Februar steht nun die alpine Ski-Weltmeisterschaft an, dieses Mal in Cortina d’Ampezzo (Italien). Was erwartet die Fans und die Läufer in den Dolomiten?
Hujara

Es ist ein sportliches Event an einem erfahrenen Weltcup-Ort in einer absoluten Traum-Kulisse. Die Vorzeichen sind sehr gut. Bei der WM starten im Gegensatz zu Weltcups ja immer nur die vier Nominierten jeder Nation. Das heißt: Ein vermeintlicher Außenseiter muss sich gegen weniger Gegner durchsetzen. Da kann also ein Top-Ergebnis entstehen für Läufer, die man nicht auf der Rechnung hat.

Sie sehen also Medaillenchancen für die deutsche Mannschaft?
Hujara

Linus ist ganz sicher ein Kandidat. Wenn Stefan Luitz bis zur WM fit ist, steht er immer auf der Rechnung, der ist eine Wundertüte. Im Abfahrtsbereich sieht es auch sehr gut aus, für alle Deutschen. Bei den Frauen hoffe ich einfach, dass es eine schafft, über sich hinauszuwachsen. Ich selbst werde es mir auf jeden Fall im Fernsehen in Ruhe anschauen und analysieren.

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