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Keine Handhabe für Behörden

Warum möglicherweise belastete Babynahrung von Nestlé weiter im Handel ist

Ende Oktober veröffentlichte der Verein "Foodwatch" eine Petition, in der er einen Verkaufstopp von Babynahrung der Hersteller Nestlé und Novalac forderte - sie sei mit Chemikalien verunreinigt. Das mediale Echo war groß, Händler nahmen die Produkte teils aus dem Verkauf. Jetzt stehen sie wieder in den Regalen. Auch, weil es den Behörden unmöglich ist, ein Gesundheitsrisiko festzustellen.

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ARCHIV - 17.09.2009, Bayern, Straubing: ILLUSTRATION - Ein Säugling trinkt aus der Flasche. (zu dpa "Kühe aus der Wesermarsch liefern Babynahrung für die Welt" vom 11.02.2019) Foto: Armin Weigel/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ - Verwendung weltweit Foto: Armin Weigel/dpa

Die Mechanismen, welche die von Foodwatch veröffentlichte Petition nach sich zog, sind beispielhaft für die Entwicklung einer Nachricht. Zunächst griff das Redaktionsnetzwerk Deutschland das Thema auf und verbreitete es über seine Zeitungstitel. Andere Online-Medien stiegen darauf ein.

Händler reagieren auf die Petition

Am späten Nachmittag des Tages veröffentlichte dann auch die Deutsche Presseagentur eine Meldung. Am darauffolgenden Tag dürfte sie in zahlreichen Tageszeitungen des Landes abgedruckt worden sein - es ging immerhin um verunreinigte Babynahrung und ein mögliches Krebsrisiko. Das ist eine starke Nachricht.

Sie bewirkte, dass die Drogerieketten Rossmann und dm die von Foodwatch beanstandeten Nestlé-Produkte aus dem Verkauf nahmen.

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ARCHIV - Der stellvertretende Geschäftsführer von Foodwatch, Matthias Wolfschmidt, aufgenommen am 13.03.2012 in Berlin während einer Pressekonferenz. Foto: Soeren Stache/dpa (zu zu dpa-Story "Fünf Jahre nach dem Ehec-Ausbruch" vom 03.05.2016) +++(c) dpa - Bildfunk+++ - Verwendung weltweit Foto: Sören Stache/dpa

Für den Verein war die Berichterstattung damit ein Erfolg. Seine Petition erhielt bundesweite Aufmerksamkeit. Und dann verschwanden die Produkte auch noch aus ein paar Regalen.

Foodwatch hatte zuvor großen Aufwand betrieben, um die Mineralölrückstände nachzuweisen. Der Verein beauftragte mehrere Labors, die Produkte unabhängig voneinander zu analysieren und ließ sich die Sache einen fünfstelligen Betrag kosten. "Wir hatten Hinweise darauf, dass die Substanzen in bestimmten Produktgruppen enthalten sein könnten", erklärt Matthias Wolfschmidt, internationaler Kampagnen-Direktor des Vereins.

Die laut den Labortests belasteten Produkte: Novalac Säuglingsmilchnahrung PRE 400g ; Chargennummer: A5952275; Mindesthaltbarkeitsdatum: 11.03.2020 Nestlé BEBA OPTIPRO PRE 800 g von Geburt an ; Chargennummer:  91120346AA; Mindesthaltbarkeitsdatum: 10/2020 Nestlé BEBA OPTIPRO 1 800 g  von Geburt an ; Chargennummer: 9098080621; Mindesthaltbarkeitsdatum: 10/2020;

Eine Sorge von Foodwatch: Die in der Babynahrung nachgewiesenen Verunreinigungen könnten ein Gesundheitsrisiko sein. Die Europäische Lebensmittelbehörde (EFSA) schließt nicht aus, dass entsprechende Verbindungen problematisch sein könnten. Möglicherweise können sie das Erbgut verändern und Krebs auslösen.

Rückstände offenbar produktionsbedingt

Foodwatch ist in drei europäischen Ländern tätig. Ziel des Vereins ist es, Qualität und Sicherheit von Lebensmitteln zu erhöhen. Bekannt ist er besonders für die Verleihung des "Goldenen Windbeutel" . Mit dem Preis zeichnet Foodwatch die dreistesten Werbelügen der Lebensmittelindustrie aus.

Den Nachweis von Mineralölrückständen in Babynahrung erbrachte der Verein bei Produkten auf dem deutschen, dem französischen und dem niederländischen Markt. Neben Nestlé und Novalac, dessen Produkte fast ausschließlich in Apotheken erhältlich sind, waren etwa auch Produkte von Danone und Hipp betroffen, die in Frankreich vertrieben werden.

Das Zeug ist auch in Nesquik

Dass Bestandteile von Mineralöl in Nahrungsmitteln auftauchen, ist kein neues Problem: Immer wieder mal gab es in den letzten Jahren entsprechende Schlagzeilen.

Die Rückstände tauchten in Adventskalender-Schokolade auf, in Kinderschokolade und in Osterhasen. Erst vor einigen Monaten fiel der beliebte Nestlé-Kakao "Nesquik" in einem Vergleich der Zeitschrift "Öko-Test" durch. Darin sei viel zu viel Zucker, kritisierten die Autoren. Und außerdem eben Mineralölrückstände.

Für Nestlé ist die Foodwatch-Kritik insofern keine neue Erfahrung. Der Konzern reagierte auf die Nachricht so, wie er auch schon reagierte, als die Verunreinigung im Kakao publik wurde.

Er erklärte in einer knappen Mitteilung, seine Produkte seien gemäß aller existierenden Vorschriften sicher und könnten somit ohne Sorge konsumiert und verfüttert werden. Novalac teilte mit, die Vorwürfe ernst zu nehmen. Das Milchpulver werde von einem französischen Hersteller bezogen, der um Aufklärung des Vorfalls gebeten worden sei. Aktuell lägen noch keine Ergebnisse vor.

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ARCHIV - 15.03.2013, Bayern, Straubing: ILLUSTRATION - Ein Löffel mit Baby-Milchpulver. (zu dpa "Kühe aus der Wesermarsch liefern Babynahrung für die Welt" vom 11.02.2019) Foto: Armin Weigel/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ - Verwendung weltweit Foto: Armin Weigel/dpa

Gerade das Image von Nestlé ist nicht das allerbeste. Die Firma steht immer wieder mal in der Kritik von Umweltschützern und Lebensmittelaktivisten.

Der frühere Nestlé-Chef Peter Brabeck-Letmathe erklärte vor Jahren in der Dokumentation "We feed the World", dass der Zugang zu Wasser seiner Meinung nach kein öffentliches Recht sein sollte. Vielmehr müsse Wasser "so wie jedes andere Lebensmittel einen Marktwert haben."

Entsprechend fiel nach Bekanntwerden des Foodwatch-Berichtes die Resonanz in den sozialen Netzwerken nicht unbedingt zugunsten des Unternehmens aus.

Ist der Nestlé Konzern nicht schon irgendwann mal durch andere befremdliche Machenschaften aufgefallen?

Ich glaube, ich habe da schon etwas gelesen, irgendetwas mit Wassergrundrechte, Blei, Kinderarbeit.

— Frau Pingelpups (@Insasse666) October 24, 2019

Dass ein solcher Konzern es mit giftigen Chemikalien in Babynahrung im Zweifel nicht allzu genau nimmt, passt da irgendwie ins Bild.

Im Prinzip hat der Konzern Recht, aber...

Allerdings: Nestlé hat mit seiner verlautbarten Position in diesem Falle Recht - zumindest teilweise. Tatsächlich gibt es aktuell keine profunde Grundlage für die Behauptung, dass die von Foodwatch genannten Produkte gesundheitsgefährdend sind.

Freilich: Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Produkte möglicherweise nicht sicher sind. Es gibt schlicht keine Grenzwerte. Insofern verstößt Nestlé in diesem Fall also zumindest auch gegen keinerlei relevante Vorschriften.

Die ESFA bezeichnet Mineralölrückstände in Nahrungsmitteln als unerwünschte Stoffe. Einige Substanzen aus der Gruppe der Mineralölrückstände, speziell sogenannte MOAH, könnten möglicherweise krebserregend sein und das Erbgut verändern, darauf deuten Tier-Experimente hin.

Allerdings gebe es bislang keinen Nachweis für eine schädliche Wirkung auf den menschlichen Körper.

Das Bundesamt für Risikobewertung erklärt zu Mineralölrückständen:

"Es ist nicht auszuschließen, dass sich unter den MOAH Substanzen finden, die gesundheitliche Schäden hervorrufen können. Daher sollte nach Auffassung des Bundesinstituts für Risikobewertung die Aufnahme von MOAH immer minimiert werden. Die Produkte können nicht mit Sicherheit als unbedenklich eingestuft werden. Eine gesundheitliche Bewertung ist aufgrund der unzureichenden Datenlage nicht möglich."

Die Europäische Kommission hat die Substanzen im Visier

Die Europäische Kommission hat Mineralölrückstände daher schon länger im Visier. Seit 2017 läuft ein EU-weites Monitoringprogramm, um Eintragswege und potenziellen Gefahren der Stoffe zu untersuchen. Ende 2019 sollte die Datensammlung abgeschlosssen sein. Wahrscheinlich wird es allerdings noch etwas länger dauern.

Als Foodwatch am 24. Oktober die Petition veröffentlicht, wird jedenfalls auch Brüssel hellhörig: Die Kommission ruft die betreffenden Mitgliedsstaaten auf, dem Sachverhalt nachzugehen. Die zuständigen Kontrollbehörden sollen ihre Ermittlungsergebnisse bis zum 18. November nach Brüssel übermitteln.

Auf Grundlage der bisherigen Bewertungen sehen wir keine Möglichkeit des Tätigwerdens zum jetzigen Zeitpunkt."
Ordnungsamt der Stadt Frankfurt

In Deutschland liegt die Lebensmittelkontrolle in der Kompetenz der Länder. Zudem sind die Ordnungsämter der Kommunen und Kreise darin involviert, in denen die jeweiligen Unternehmen ihren Sitz haben. Der deutsche Unternehmenssitz von Nestlé ist in Frankfurt.

Dramatisiert Foodwatch die Ergebnisse?

Das dortige Ordnungsamt teilt mit, Nestlé um ein Gutachten über die von Foodwatch genannten Produkte gebeten zu haben. Das Unternehmen habe daraufhin die gleichen Chargen beprobt, die auch Foodwatch untersuchen ließ. In dem Bericht, der dem Ordnungsamt vorliegt, erklärt Nestlé: Es gebe keine Mineralölrückstände.

Das Ordnungsamt hat zudem eigene Proben gezogen, sie werden derzeit noch ausgewertet. "Auf Grundlage der bisherigen Bewertungen sehen wir keine Möglichkeit des Tätigwerdens zum jetzigen Zeitpunkt."

Eine Aussage des Konzerns und ein noch nicht vorliegendes Ergebnis des Ordnungsamtes sind freilich eine dünne Grundlage, um Nestlé generell vom Vorwurf systematischer Verunreinigungen zu entlasten.

Allerdings: Auch das Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg teilt mit, regelmäßig Lebensmittel auf MOAH und andere Mineralölrückstände untersuchen zu lassen. Nach der Aufforderung aus Brüssel würden aktuell die von Foodwatch angemahnte Babynahrung untersucht, das Ergebnis steht noch aus.

Beprobungen der zur Rede stehenden Produkte habe es aber auch schon früher gegeben. Sie seien stets unauffällig gewesen. "Es wurden keine auffälligen Gehalte oberhalb der Bestimmungsgrenze festgestellt, schreibt das Ministerium.

Ist die Sache also eigentlich nur halb so schlimm? Dramatisiert Foodwatch gar die Ergebnisse?

Mineralölrückstände sind überall

"Zunächst mal erscheint uns die von Foodwatch angewandte Analysemethode grundsätzlich geeignet", erklärt Jürgen Ammon. Er arbeitet als Lebensmittelchemiker in der Überwachung des Ministeriums für Verbraucherschutz.

Es gibt derzeit keine gesicherte Möglichkeit zu sagen, wo diese Stoffe überhaupt herkommen
Jürgen Ammon, Lebensmittelchemiker

Die Krux mit den Mineralölrückständen, erklärt Ammon, liege eigentlich darin, dass über sie einfach zu wenig bekannt sei. Weder sei klar, wie genau sie im menschlichen Organismus wirken, noch sei geklärt, wie genau sie jeweils in Lebensmittel gelangen.

Klar ist nur: Mineralölrückstände kommen praktisch überall vor. "Generell sind sie in einem Ausmaß präsent, dass es faktisch unmöglich sein dürfte, sie völlig aus Lebensmitteln fernzuhalten", erklärt Ammon.

Foodwatch sagt, im konkreten Fall sei die Verunreinigung wohl über das Verpackungsmaterial Weißblech in die Babynahrung gekommen. Generell spekuliert die Wissenschaft über viele Eintragswege: Mineralöle könnten etwa über Schmiermittel in Lebensmittel gelangen, möglicherweise beim Lkw-Transport und über Ernte-Maschinen und wahrscheinlich, wenn sie mit bedrucktem Altpapier in Kontakt kommen.

Es seien aber auch noch viele andere Wege denkbar. "Es gibt derzeit keine gesicherte Möglichkeit zu sagen, wo diese Stoffe überhaupt herkommen", sagt Ammon.

Andere Hersteller nehmen das Thema offenbar ernst

Auch aus seiner Sicht gibt es daher aktuell keine Grundlage, gegen die beanstandeten Produkte vorzugehen. Es fehle ein lebensmittelrechtlicher Beanstandungsgrund.

Das erkennt im Grunde auch Foodwatch an. Im Nachgang zur Petition schrieb der Verein, die gefundenen Belastungen seien geringfügig und es drohe wohl keine akute Gesundheitsgefahr. "Dennoch ist aber unsere Position, dass Verunreinigungenmit krebsverdächtigen Substanzen in Lebensmitteln nichts zu suchen haben - gerade, wenn es um Babynahrung geht", sagt Foodwatch-Manager Matthias Wolfschmidt.

Viele Lebensmittelhersteller nehmen das Thema Mineralölrückstände längst ernst. Im Internet kursieren entsprechende Konzepte.  Es gibt Fachtagungen, auf denen Unternehmen und Branchenverbände Alternativen in Produktion und Verpackung erörtern, mit denen sich die Verunreinigungen vermeide lassen.

Und zwar durchaus mit Resultaten, wie Wolfschmidt klarmacht: "Es gibt längst Möglichkeiten, Produkte ganz ohne Mineralölrückstände auf dem Markt zu bringen, dazu sind viele Hersteller in der Lage." Dass es Nestlé-Produkte ohne einschlägige Verunreinigungen gebe, zeige, dass auch dort das entsprechende Knowhow und die erforderliche Technik vorhanden seien.

"Insofern wollen wir auch Druck machen, dass dort mehr Maßnahmen gegen diese Verunreinigungen unternommen werden", erklärt Wolfschmidt.

Es tauchen wohl immer wieder mal neue Gifte auf

Ob die Verunreinigungen mit den Mineralölrückständen indes wirklich gesundheitsgefährdend ist, bleibt bis auf weiteres offen. Sicherheit werden Eltern und Verbraucher erst dann haben, wenn die Europäische Kommission ihre Auswertungen abgeschlossen hat. Das kann Jahre dauern.

Die Drogeriekette dm teilt unterdessen am 7. November mit, dass sie die von Foodwatch beanstandeten Nestlé-Produkte wieder ins Sortiment genommen hat. Rossmann äußerte sich zunächst nicht. Andernorts ist der Verkauf trotz der Petition nie gestoppt worden. Auch das Produkt von Novalac ist weiterhin erhältlich - aller Mineralöl-Vorwürfe zum Trotz.

Das die Substanzen überhaut stärker in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, hängt mit verbesserten wissenschaftlichen Methoden zusammen. Erst sie machten es möglich, überhaupt Schadstoffe zu identifizieren, von denen früher niemand etwas geahnt habe, erklärt eine Sprecherin des Ministeriums für Verbraucherschutz. Entsprechende Beispiele fänden sich bei Nahrungsmitteln häufiger.

Insofern könnten die Mineralölrückstände vielleicht eines Tages stellvertretend für eine Geschichte stehen, die auch viele andere Substanzen erzählen: Der Mensch bringt, oft im Zeichen des Fortschritts, Dinge in die Welt, deren Folgen nicht abzusehen sind. Die Tragweite und die Konsequenzen daraus werden oft erst nach Jahrzehnten offenbar.

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