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Heftige Kritik an Plänen

Ein Jahr nach Notre-Dame-Feuer: KIT-Professor Böker kritisiert Vorschläge zum Umbau

Trotz gewaltiger Spenden gibt es ein Jahr nach dem Brand der Kathedrale Notre-Dame in Paris noch kein Konzept für den Wiederaufbau. Stattdessen gibt es abenteuerliche Vorschläge. Renommierte Fachleute wie der emiritierte KIT-Professor Johann Josef Böker reagieren entsetzt.

Notre-Dame
Die Pariser Kathedrale Notre-Dame steht in Flammen. Foto: Michael Euler

Trotz gewaltiger Spenden gibt es ein Jahr nach dem Brand der Kathedrale Notre-Dame in Paris noch kein Konzept für den Wiederaufbau. Stattdessen gibt es abenteuerliche Vorschläge für ein Freibad oder einen Wintergarten auf dem Dach der Kirche die Runde. Renommierte Fachleute wie Johann Josef Böker, emeritierter Professor für Baugeschichte an der Fakultät für Architektur des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), reagieren entsetzt. Unser Redaktionsmitglied Ulrich Coenen fragte Böker, der zu den wichtigsten Gotik-Experten weltweit zählt, wie es weitergeht.

Sie haben unmittelbar nach dem Brand im BNN-Interview gesagt, die „Katastrophe hätte mit allergrößter Leichtigkeit verhindert werden können“. Sehen Sie das immer noch so?

Böker: Es liegt zumindest grobe Fahrlässigkeit vor, die mit der Verantwortung für das Gebäude in keiner Weise übereinstimmen kann.

Die ehemalige Kölner Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner hat im Interview mit der Süddeutschen Zeitung gesagt, dass der Wiederaufbau von Notre-Dame Jahrzehnte dauern könnte.

Böker: Zahlreiche Sakralbauten wurden im 2. Weltkrieg sehr viel stärker zerstört als Notre-Dame bei diesem Brand vor einem Jahr. In Paris ist lediglich ein Teil der Gewölbe eingestürzt. Im Kölner Dom waren es im 2. Weltkrieg 17 Gewölbe, in der Lübecker Marienkirche sogar alle Gewölbe. Die Schäden in Paris sind im Vergleich dazu relativ gering. Das aufgehende Mauerwerk steht noch, auch wenn an der Oberfläche Quader ausgewechselt werden müssen. Ich bin überzeugt, dass das statische System von Notre-Dame nach wie vor tragfähig ist.

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Johann Josef Böker in der Lehrstuhlbibliothek des Fachgebiets Baugeschichte des KIT Foto: N/A

Was macht Sie so optimistisch?

Böker: Die meisten mittelalterlichen Kirchen, die im 2. Weltkrieg schwere Zerstörungen erlitten haben, wurden innerhalb weniger Jahre wiederhergestellt. 1948, also zum 700. Jahrestag der Grundsteinlegung, war der Chor des viel stärker zerstörten Kölner Doms wieder begehbar. Es ist eine Frage von notwendigen Sicherheits- und Ergänzungsmaßnahmen. Von einem Wiederaufbau, der sich über Jahrzehnte zieht, dürfte in Paris eigentlich keine Rede sein.

Der letzte Zustand der Kathedrale muss wiederhergestellt werden

Laut Medienberichten ist fast eine Milliarde Euro an Spenden geflossen.

Böker: Die Finanzmittel sind vorhanden. Ich vermisse allerdings ein Konzept und eine klare Entscheidung, wie der Wiederaufbau zu erfolgen hat. Es gibt aus meiner Sicht nur eine Option für dieses für die Gotik, für Paris und ganz Frankreich wichtige Bauwerk. Es muss in seinem letzten Zustand wiederhergestellt werden.

Nun ist Notre-Dame kein Sakralbau, der komplett aus dem Mittelalter stammt.

Böker: In der Mitte des 19. Jahrhundert war die Situation sehr ähnlich wie heute. Durch verschiedene spätere Baumaßnahmen und fehlende Bauunterhaltung wurde das statische Gefüge sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Architekt Eugène Viollet-le-Duc hat es durch seine geniale Einsicht in die Struktur des Sakralbaus geschafft, diesen für die Zukunft zu sichern. Er ist ihm bei der Sanierung ab 1844 gelungen, die Kathedrale ästhetisch so zu schließen, dass sie ein Gesamtkunstwerk ergibt, das den Geist des Mittelalters und des 19. Jahrhunderts vermittelt. Deswegen muss dieser Letztzustand von Viollet-le-Duc wiederhergestellt werden.

Der berühmte Dachreiter des 19. Jahrhunderts wurde aber durch das Feuer vernichtet.

Böker: Der Dachreiter war ein Fingerzeig und ein Symbol in der Architekturgeschichte des 19. Jahrhunderts und richtungsweisend für die Entwicklung der Neugotik. Dieses Werk von Viollet-le-Duc ist unbedingt wiederherzustellen. Die Figuren, die den Dachreiter flankieren, wurden übrigens vor dem Brand wegen Restaurierungsarbeiten demontiert und sind erhalten. Der Dachreiter lässt sich deshalb unter Verwendung originaler Substanz rekonstruieren.

Zahlreiche Architekten haben inzwischen computeranimierte moderne Entwürfe für den Wiederaufbau vorgelegt. Sind das Spielereien, um Aufmerksamkeit zu erregen?

Böker: Ich befürchte, sie sind sehr ernst gemeint. Notre-Dame ist für diese Architekten ein herrliches Bauerwartungsgelände mitten in Paris. Bei den gründerzeitlichen Ringstraßenbauten in Wien empfinde ich die modernen Dachausbauten bereits als außerordentlich störend. Etwas in dieser Art darf bei einer Kathedrale wie Notre-Dame auf keinen Fall ausgeführt werden. Dort lässt sich nichts hinzufügen, was einen anderen Charakter trägt und im wahrsten Sinne des Wortes das historische Denkmal unterdrückt.

Architekten müssen sich dienend in den Erhalt des Bauwerks stellen

Missfällt Ihnen die Debatte der vergangenen Monate?

Böker: Ich sehe die Gefahr des Theoretisierens und der Vorschläge von unberufener Seite. Viele Architekten haben Ideen für Hallenbäder, Wintergärten und ähnliches auf dem Dach von Notre-Dame geäußert. Wenn man eine Umfrage in Frankreich machen würde, gäbe es ein breite Mehrheit für eine Rekonstruktion des letzten Zustands. Die Spendengelder sind definitiv nicht für einen Neubau eingegangen, der markant im Stadtbild zu sehen ist. Viollet-le-Duc hat sich vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten dienend in den Erhalt des Bauwerks gestellt. Das fordere ich auch von einem heutigen Architekten, der mit der Sanierung der Kathedrale beauftragt wird. Es reicht nicht, ohne ein Verständnis für das Bauwerk einen Aufbau in Form eines völlig fremdartigen Elements aufzusetzen.

Der abgebrannte Dachstuhl, der von Viollet-le-Duc unter Verwendung mittelalterlicher Teile errichtet wurde, war im Gegensatz zu vielen anderen neugotischen eisernen Dachstühlen des 19. Jahrhunderts aus Holz. Ist eine Rekonstruktion in Holz sinnvoll?

Böker: Ich würde den neuen Dachstuhl, um die Brandgefährdung zu reduzieren, in Stahl ausführen. Die Materialität ist nicht entscheidend, sondern die Außenhaut. Der Kölner Dom und die Kathedrale in Chartres erhielten bereits im 19. Jahrhundert Dachstühle in Eisen. Auch Viollet-le-Duc hat sich bereits sehr intensiv mit eisernen Dachstühlen beschäftigt.

Notre-Dame ist ein Symbol für die Einheit Frankreichs

Notre-Dame ist ein Touristenmagnet, aber keineswegs die bedeutendste Kathedrale im Mutterland der Gotik.

Böker: Notre-Dame wurde im 19. Jahrhundert ein Symbol der Einheit Frankreichs. Es ist vor allem Victor Hugos Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ (Original: Notre-Dame de Paris) von 1831, der den Ruhm der Kathedrale begründet hat. Die drei sogenannten klassischen Kathedralen in Chartres, Reims und Amiens sind im Hinblick auf die Architektur bedeutender und vor allem in sich geschlossene Bauwerke. Notre-Dame ist ein Sakralbau aus der frühen Phase der Gotik, der kaum fertig gestellt, vollständig überformt wurde. Die ursprünglichen Querhausfassaden wurden in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts abgebrochen und durch hochgotische Neubauten mit ihrer für diese Epoche typischen völlig entmaterialisierten Wand ersetzt. Die südliche Querhausfassade nach dem genialen Entwurf von Jean de Chelles ist die bedeutendere. Es ist eine vollkommen vergeistigte Architektur, die nur aus Formen besteht und nicht mehr den Materialcharakter der Wand hat. Gemeinsam mit der nicht weit entfernten Palastkapelle Sainte-Chapelle steht die südliche Querhausfassade für die Hofkunst des französischen Königs Ludwig IX. des Heiligen.

War die Bauhütte der Südfassade nicht eine der wichtigsten in Europa?

Böker: In der Tat. Dort wurde Erwin von Steinbach, der Architekt der Westfassade des Straßburger Münsters und des Freiburger Münsterturms, ausgebildet. Die Hochgotik steht für Internationalität. Notre-Dame ist deshalb in dieser Zeit kein französisches, sondern ein europäisches Bauwerk, genau wie Straßburg.

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