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Vor allem an Holz mangelte es den Menschen im Hungerwinter. Das wenige, das übrig war, stand oft unter der Aufsicht der jeweiligen Alliierten. Viele Menschen stahlen Holz, um zu überleben.

Erinnerungen an 1946

Von Beißstrümpfen und Omas: Wie BNN-Leser in und um Karlsruhe durch den Hungerwinter kamen

Viele BNN-Leser aus dem Landkreis Karlsruhe waren noch klein, als der Hungerwinter 1946 kurz nach dem zweiten Weltkrieg für Eiseskälte sorgte. Mit Anpacken mussten sie trotzdem.
7 Minuten
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Vor einigen Wochen baten die BNN, dass Leser Geschichten von Kälte an die Redaktion schicken – und die Strategien, die ihre Familien genutzt haben, um mit ihr fertig zu werden.

Zurück kamen jede Menge Zuschriften, die sich vor allem mit einem beschäftigten: dem Hungerwinter 1946, der kurz nach dem Krieg Tausende Menschen das Leben kostete.

Viele schrieben Geschichten von Hunger und Leid, vom Frieren und von schrecklichen Tragödien, aber auch von Optimismus, Resilienz und guten Menschen, die geholfen haben.

Die hier veröffentlichten Geschichten sind einige von vielen. Sie zeigen eindrücklich, wie viel Menschen aushalten und wie sie über sich hinauswachsen können.

Überleben mit der „Brennhexe“

Eine Geschichte vom Durchhalten: Es gab kein Brennmaterial, auch unsere Wohnung war kalt. Mein Vater, mein Bruder und ich zogen an freien Tagen hinaus in ein Wäldchen und gruben die Stümpfe und Wurzeln gefällter Buchen und Eichen aus, eine extrem anstrengende Arbeit für uns ausgehungerte Menschen.

Diese recht primitive Feuerstelle gab uns immerhin so viel Wärme, dass wir diesen eisigen Winter überstanden haben.
Werner Holzapfel, Karlsruhe

Die schweren Holzteile fuhren wir auf einem Handwagen nach Hause. Dort mussten wir sie in passgerechte Stücke zersägen oder spalten. Wir hatten nämlich einen kleinen, eisernen Ofen erworben und im kleinsten Zimmer der Wohnung an den Kamin angeschlossen. Man nannte diesen Ofen „Brennhexe“. Diese recht primitive Feuerstelle gab uns immerhin so viel Wärme, dass wir diesen eisigen Winter überstanden haben.

Von Werner Holzapfel, Karlsruhe

Kratzen willkommen

Eine Geschichte vom Blickwinkel: Ihr Artikel über die kalten Winter im Nachkriegsdeutschland ließen bei mir Erinnerungen wachwerden. Ich bin 1940 geboren und behütet in der Familie aufgewachsen, so dass ich die Not in dieser Zeit kaum hautnah erfahren musste.

Trotzdem erinnere ich mich gut daran und denke manchmal an Begebenheiten zurück, wie zum Beispiel an die warmen Wollstrümpfe mit Zopfmuster, die mir meine Mutter gestrickt hatte.

Sie waren sehr schön, aber ich konnte sie nicht anziehen, weil sie schrecklich kratzten. Alles gute Zureden half nichts, weil das Kratzen so unangenehm war, dass ich lieber etwas kühlere Beine in Kauf nahm.

Da rief ich laut weinend nach meinen warmen „Beißstrümpfen“.
Rita Abel, Karlsbad

Das änderte sich, als wir einmal nach einem langen Sonntagsspaziergang nass und durchgefroren nach Hause kamen und meine Beine vor Kälte schmerzten. Da rief ich laut weinend nach meinen warmen „Beißstrümpfen“. Nachdem ich sie angezogen hatte, spürte ich kein unangenehmes Kratzen mehr, nur noch wohlige Wärme. In diesem Winter wiederholte sich diese Begebenheit mehrmals, aber nur wenn es bitter kalt war und ich fürchterlich fror.

Dann waren die kratzigen Strümpfe sehr willkommen. Eine Hilfe für Menschen im bevorstehenden Winter ist meine Geschichte sicher nicht, aber sie zeigt, dass kleine Probleme oft durch größere gelöst werden können.

Von Rita Abel, Karlsbad

Der Küchenherd brannte immer

Eine Geschichte von Kindheit: Die Winter 1945/46 und 1946/47 verbrachte ich mit meinen Eltern, meinen Geschwistern, meiner Großmutter und meiner Tante in einem hölzernen Gartenhaus, bestehend aus einem Zimmer und einer Küche, ohne Strom und Wasser. Als Heizung diente der Küchenherd.

Das Gartenhaus befand sich fünf Kilometer von der Stadtmitte der Stadt Heilbronn entfernt. Warum hausten wir unter solchen Umständen? Unser großes Fachwerkhaus, das gegenüber vom Renaissance-Rathaus Heilbronns gestanden hatte, war beim Bombenangriff am 4. Dezember 1944 zerstört worden.

Die Geräusche werde ich nie vergessen.
Gisela Naumann, Karlsruhe

Ab Weihnachten 1944 bis Kriegsende wanderte ich mit meiner Großmutter von Brackenheim zu den Dörfern des Zabergäus. Bei Bauern und Winzern nähte und flickte sie für unser Essen. Auf den Feldwegen dorthin wurden wir oft von amerikanischen Jagdbombern beschossen und mussten uns in Gräben und hinter Gebüsche werfen, um nicht getroffen zu werden. Die Geräusche werde ich nie vergessen.

Im Winter 1945 war die Familie im Gartenhaus vereint. Wasser brachte mein Vater in einem Kanister aus der Stadt mit. Regenwasser wurde in einem Holzfass gesammelt. Als Beleuchtung diente eine Karbidlampe, und der Küchenherd musste Tag und Nacht brennen, damit wir nicht erfroren.

Nur, wie und wo Holz beschaffen? Der Wald war sehr nahe, aber „Holzklau“ war verboten, und ein bewaffneter Feldschütz passte auf. Nun, überall konnte er nicht sein. Mich schickte man mit einem Eimer in den Wald, um Tannenzapfen zu sammeln. Da entdeckte ich in einer Grube Uniformfetzen, Knöpfe, einen Stahlhelm mit Loch und das Schlimmste: menschliche Knochen.

Manche Nacht habe ich von Skeletten geträumt und dass die toten deutschen Soldaten mich verfolgten, weil ich die Knöpfe und den Stahlhelm genommen hatte.

Ich schlief mit meinem Bruder in einem Feldbett im oberen Stock mit einer Wolldecke, um die wir uns ständig zankten. Man schlief bekleidet mit Strümpfen an den Füßen, die meine Mutter aus alten Pullovern gestrickt hatte. Sie kratzten fürchterlich. Als Klosett diente ein außerhalb gelegenes Häuschen mit Herz in der Tür, jedoch fror man fast fest.

Eingeschult wurde ich in einer ehemaligen Ausflugsgaststätte, weil von 14 Schulen nur vier nicht ganz in Trümmern lagen. Im Winter lag der Schnee auf dem Schulweg hoch, und die Sohlen meiner schon engen Stiefelchen waren durchgelaufen. Mein Vater legte Pappe ein. Ebenfalls aus einer Art Pappe bestand mein Schulranzen.

Die Füße wurden eben nach einer Zeit nass. Oft fiel die Schule aus, weil es keine Kohlen gab, und das nasse Holz qualmte, dass wir Kinder fast im Qualm erstickten. Im Sommer 1945 hatte meine Großmutter noch geerntet, was im Garten wuchs, aber im Winter wurde das Essen knapp. Im Herbst konnte ich in den Gärten klauen und wurde gut satt, im Winter gab es nichts mehr.

Von Gisela Naumann, Karlsruhe

Der Trick mit der Kochkiste

Eine Geschichte vom Erfindergeist: In dem besonders kalten Winter 1946/47 wurde das Schulgebäude nicht mehr beheizt, so dass kein regulärer Unterricht mehr möglich war.

In warmer Kleidung, so vorhanden, und mit Handschuhen saßen wir in den Schulbänken, gaben unsere Hausaufgaben ab und erhielten neue. In jener Zeit gab es weit und breit keine einzige hölzerne Parkbank.

Alles Hölzerne, was nicht niet- und nagelfest war, wurde verheizt. Die Elbe war zugefroren, Autos fuhren darüber. Und man konnte auf den überfluteten und nunmehr dick zugefrorenen Elbwiesen herrlich Schlittschuh laufen, so man sie hatte.

So konnten diese Leute wenigstens abends in ein warmes Bett kriechen.
Wolfgang Strauß, Karlsbad

Viele Menschen hatten eine sogenannte Kochkiste. Das war eine größere Kiste oder Truhe oder ein großer Karton, die mit isolierenden Materialien ausgestopft wurden, zumeist Federbetten. Gekochte und gebratene Speisen im Topf, warm oder heiß, wurden dort hinein gestellt und so warm gehalten. Mit dem Nebeneffekt, dass auch das Federbett oder die Bettdecke gewärmt wurde, was für viele wichtig war, weil ihre Wohnungen mangels Heizmaterial nicht beheizt wurden. So konnten diese Leute wenigstens abends in ein warmes Bett kriechen.

Von Wolfgang Strauß, Karlsbad

Die Großmutter war die Rettung

Eine Geschichte von Liebe: Geboren im heißen Sommer 1946 war die darauffolgende sibirische Kälte eine der ganz großen Herausforderungen für die Bevölkerung. So wurde es mir in meiner Kindheit zu Hause berichtet.

Es gab keine Kohle oder Holz in Karlsruhe. Meine Oma soll mich den ganzen Tag in ihren Armen getragen haben, fest umschlungen, im Wintermantel, in dicke Schals eingewickelt.

Ihre Körperwärme war meine Heizung. Im Frühling war sie von uns gegangen. Für mich war meine Oma wohl die Rettung, doch wo sie ihre Wärme auftankte, blieb ein Rätsel. In meinen Kindheitstagen hörte ich immer wieder, dass ihre Enkelin ihr großes Glück war

Von Silvia Schöllhammer, Stutensee

Stolzer Sammler

Ein Geschichte von letzten Resten: Der Winter 1946 war sehr hart. Auch ich, Jahrgang 1937, kann ein Lied davon singen. An die damalige Eiseskälte habe ich noch beste Erinnerungen. Bibbernd saßen wir in der Küche am Herd und rieben uns die Hände.

Eisblumen zierten die Fenster, und auf dem Fensterbrett lagen alte Handtücher. Meine Mutter strickte für meine Schwester Martha und für mich dicke Socken. Wir hatten damals Holzschuhe, welche einigermaßen wärmten. Mein ältester Bruder war in Russland gefallen. Der zweite musste sein junges Leben vier Jahre in russischer Gefangenschaft in Sibirien fristen.

Stolz brachte ich meinen Fund nach Hause. 
Goswin Mäule, Rheinstetten

Brennmaterial war extrem knapp. Ich wohnte in Mühlburg, wo nach dem Krieg wieder eine Malzfabrik ihre Arbeit aufnahm. Mit einem kleinen Wägelchen trottete ich von der Gluckstraße vor das Firmengelände. Dort wurde ausgebrannter Koks ausgeschüttet, und ich fischte die noch nicht ganz ausgebrannten Brocken heraus. Stolz brachte ich meinen Fund nach Hause.

Auch nicht gerade angenehm war es, wenn man nachts aufs Abort musste. Dieser lag im Treppenhaus. Damit die Wasserleitungen nicht einfroren, brannte dort immer ein eine kleine Gasflamme. Später, als für den Hausbau ein Teil des Hardtwalds abgeholzt wurde, bekamen wir einen Baumstumpf, den meine Eltern ausgruben und klein hackten. Das war schon ein Segen!

Von Goswin Mäule, Rheinstetten

Das Zauberwort hieß Bewegung

Eine Geschichte vom Zugfahren: Viele Jahre meiner Kindheit und Jugend waren von Kälte begleitet. Ein besonders eindrucksvolles, frostiges Beispiel war die „Reise“ von Stolp in Hinterpommern, heute Slupsk in Polen, nach Berlin im Winter 1945.

Meine Mutter und ich waren im Zuge der Evakuierung von Berlin von Verwandten in Pommern aufgenommen worden. Jetzt war es an der Zeit zurückzukehren. Die Rote Armee an der Front war schon bis Danzig vorgedrungen. Mein Vater erhielt Fronturlaub, um uns aus Stolp abzuholen.

An einem kalten Januarmorgen verabschiedeten wir uns von unserem Zuhause und liefen mit wenig Gepäck zum Bahnhof. Das Thermometer zeigte 17 Grad unter null. Ich trug eine Puppe und eine Holzkiste mit Henkeln und Verschlüssen, die als Soldatenkoffer bezeichnet wurde. Ein sehr nützliches Teil, das als Sitzplatz geeignet ist. Den ganzen Tag verbrachten wir am Bahnhof, aber es kam kein Zug.

Dann kamen die Tiefflieger und schossen Löcher in das Dach des Zuges.
Ursula Weller, Karlsruhe

Wir versuchten es am nächsten Morgen wieder. Diesmal konnten wir alle ein Abteil mit Holzbänken in einem Personenzug besetzen. So ein Abteil war mit gegenüberliegenden Bänken an der Längsseite und zwei Türen an beiden Seiten ausgestattet.

Es war bitterkalt, mehrere Mützen und Schals halfen nicht. Meine Cousine und ich saßen eng umschlungen beieinander. Die Kälte kroch in uns hinein. Aber der Zug fuhr. Ein Weilchen, dann hielt er wieder. So ging es immer hin und her.

Dann kamen die Tiefflieger und schossen Löcher in das Dach des Zuges. Aber der Zug fuhr wieder ein Stückchen, bis er vollends zum Stehen kam. Über Stunden bewegte sich nichts. Wir waren in Stargard (Szczecinski) angekommen und mussten den Zug verlassen.

Draußen lag Schnee, fast kniehoch, jedenfalls für mich, und der eisige Wind ließ mich erstarren. Auf den Zuruf meines Vaters: „Ursula ist ein Kutscher!“ musste ich springen und die Arme übereinanderschlagen. Immer wieder!

Der leichte Zug machte es noch kälter und schrecklicher, aber dann wurde mir wieder warm, und ich konnte zur Unterkunft laufen, einer Turnhalle, in der wir ein paar Nächte verbrachten. Diese Übung musste ich in den nächsten Tagen oft wiederholen, jedes Mal half sie gegen die Kälte. Aber jedes Mal musste ich erst aufgefordert werden.

Nach ein paar Tagen gelang es meinem Vater, uns drei in einen Fronturlauber-Zug zu schieben, der von einem Signal zum Halten gebracht wurde. Er selbst war berechtigt, mitzufahren. In der Erinnerung höre ich noch, wie er sagt: „Kameraden, habt ihr noch einen Platz für ein kleines Mädchen?“

Im Zug war es unglaublich voll und warm. Meine Mutter wurde sofort ohnmächtig, und ich saß allein, aber geschützt im Gang auf meinem Holzkoffer mit der Puppe im Arm unter unzähligen Soldaten. Ein oder zwei Stunden später erreichten wir Berlin, bedankten uns bei den Soldaten und verließen den Zug, wohl wissend, dass wir viel Glück hatten.

Von Ursula Weller, Karlsruhe

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