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Kirche stellt Missbrauchsstudie vor

Missbrauchsbericht: Wenn das evangelische Pfarrhaus zum Tatort sexueller Gewalt wird

Am Donnerstag stellt die evangelische Kirche eine Studie zum sexuellen Missbrauch vor. Wird es ein Schockmoment? Und was denkt man in Baden darüber?

Ein Junge hält die Hände über dem Kopf zusammen und liegt auf einen Tisch gebeugt.
Die evangelische Kirche hat eine Studie zu sexueller Gewalt in Kirche und Diakonie (hier ein Symbolbild) erarbeiten lassen, die nun vorgestellt wird. Das Thema stand bisher im Schatten der Erkenntnisse in der katholischen Kirche. Foto: Annette Riedl/dpa

Am Donnerstag blicken viele evangelische Christen gebannt nach Hannover. Forscher der dortigen Hochschule stellen die Ergebnisse des Missbrauchsberichts der evangelischen Kirche vor. In dem Bericht geht es um „sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie“.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte die bundesweite Studie vor drei Jahren für 3,6 Millionen Euro in Auftrag gegeben. Man geht davon aus, dass es sicher mehr als die 900 Fälle gibt, die bisher im Raum stehen.

Dinglinger Haus in Lahr mit unrühmlicher Vergangenheit

Holger Henning hat viel Erfahrung mit der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Er leitet das Dinglinger Haus in Lahr, ein evangelisches Kinder- und Jugendzentrum, das in seiner Chronik ein unrühmliches Kapitel aufführt.

„Unzucht im Musterheim?“, titelte der Evangelische Pressedienst 1973, als einer von Hennings Vorgängern, der damalige Heimleiter Walter Dettling, wegen des „aufgedeckten sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen“ fristlos entlassen und später zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. 

Ungeschwärzte Akten für die Betroffenen und ein Gesprächsangebot

Henning ist Diplom-Psychologe und hat schon, bevor er vor zwölf Jahren Heimleiter in Lahr wurde, mit Kindern und Jugendlichen therapeutisch gearbeitet. Nach der Verurteilung Dettlings verlangten viele ehemalige Schüler Akteneinsicht.

Henning entdeckte im Keller des Heims jede Menge Akten. „Als ich Heimleiter wurde, habe ich den Betroffenen alle Akten ungeschwärzt zur Verfügung gestellt, immer begleitet von einem Gesprächsangebot.“

Die Notizen in den Akten umschrieben nicht mal ansatzweise, was geschah. „Da stand nicht, Dettling hat ein Mädchen missbraucht, sondern, dass es dreimal im Monat abhaute.“

Heute hat man ein demokratisches Verständnis von Erziehungshilfe.
Holger Henning
Leiter eines Jugendheims in Lahr

Den Geist der Heimerziehung in den 1960er- und 70er-Jahren nennt Henning katastrophal. „Es gab ja einen Grund für die Unterbringung der Mädchen, sie waren verwahrlost. Sie wollten in dem Heim geschützt sein, und dann werden sie dort missbraucht.“

Für Henning war Dettling ein perverser Krimineller. „Diese Strukturen gibt es heute zum Glück nicht mehr, heute hat man ein demokratisches Verständnis von Erziehungshilfe.“ 

Welche Konsequenzen sollte man aus der neuen EKD-Studie ziehen? Henning fordert: Es dürfe keine diakonische Einrichtung mehr ohne Beschwerdeverfahren geben. Und: „Es braucht eine Kontrollinstanz. Bei mir zum Beispiel überprüft das Jugendamt das Beschwerdekonzept.“ Bloße Empfehlungen genügen aus seiner Sicht nicht.

„Es braucht formale Vorgaben. Und es muss zu Konsequenzen führen, wenn man die Vorgaben nicht erfüllt, und das heißt in letzter Konsequenz den Entzug der Lizenz.“

Heike Springhart, Landesbischöfin der Evangelischen Landeskirche in Baden.
Die badische Landesbischöfin Heike Springhart erwartet Erkenntnisse aus der neuen EKD-Studie und mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Foto: Uli Deck/dpa

Auch die badische Landesbischöfin Heike Springhart sieht der Veröffentlichung der Studie mit Interesse entgegen. „Ich erwarte und erhoffe detaillierte und fundierte Erkenntnisse, die helfen, das zerstörerische Geflecht von sexualisierter Gewalt besser zu verstehen.

Evangelische Kirche ist spät dran

Persönlich erwarte ich eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Thema, einen geschärften Blick für die komplexen Dynamiken und dass wir mit diesen Erkenntnissen im Rücken entscheidende Schritte weiterkommen im Sinne einer an den Betroffenen orientierten Haltung und eines ebensolchen Umgangs mit sexualisierter Gewalt“, sagt sie.

Wichtig ist Springhart auch, „dass wir in allen unseren Äußerungen und Handlungen, von den Gebeten im Gottesdienst bis zu den Behördenbriefen, auf unsere Sprache achten und konsequent danach fragen, wie das, was wir sagen und tun, in den Ohren von Betroffenen klingt“.

Die evangelische Kirche ist spät dran mit der Aufbereitung, ein paar Jahre später als die Katholiken. Im November 2020 wurde ein Betroffenenbeirat einberufen, doch der ist wegen interner Streitigkeiten schnell gescheitert.

Nancy Janz war von Anfang an dabei. Das damalige Konstrukt fand sie nicht überzeugend. „Die Kirchenfunktionäre haben sich Rosinen herausgepickt, sich das genommen, über das sie reden wollen und weggelassen, was wehtut“, umschreibt sie die Anfangszeit. Fast die Hälfte der Mitglieder des Beirats trat zurück, die EKD setzte 2021 die Arbeit des Gremiums aus.

2022 dann der Neubeginn in der Aufarbeitung, mit einem anders aufgestellten „Beteiligungsforum“ sollte alles besser werden. Janz ist wieder mit dabei. Am Donnerstag wird sie als eine der Betroffenen in Hannover auf dem Podium sitzen, wenn die Ergebnisse der Studie vorgestellt werden.

Janz sieht spezifische Faktoren in der evangelischen Kirche, die sexuellen Missbrauch begünstigt haben. Machtgefälle gebe es ja nicht nur in der hierarchisch aufgebauten katholischen Kirche, sondern überall da, wo Menschen in Machtpositionen seien.

Janz rückt den offenen, liberalen Umgang im evangelischen Pfarrhaus in den Fokus. „Evangelische Pädagogik hieß, miteinander befreundet zu sein. Der Pfarrer ist nahbar und befreundet, sodass die Grenzen des sexuellen Übergriffs immer mehr verschwimmen.“

Für die von sexuellem Missbrauch Betroffenen seien jetzt nicht Zahlen, Daten und Fakten der Studie wichtig. „Das ist nicht das, was Betroffene wirklich weiterbringt, sondern es braucht strukturelle Veränderungen, angemessene Anerkennungszahlungen und vernünftige Begleitstrukturen.“

Janz erhofft sich von der Studie auch weiteren Druck: „Die einzelnen Landeskirchen müssen nun Aufarbeitungsstudien in Auftrag geben.“

Konsequenzen in Baden geplant

Bischöfin Springhart sichert zu, dass sie Konsequenzen für die badische Landeskirche ziehen will. „Wir werden im Laufe des Jahres eine unabhängige regionale Aufarbeitungskommission mit der evangelischen Kirche der Pfalz gründen, die dann geeignete Formen der gründlichen Aufarbeitung entwickeln wird. Ob das eine weitere Studie sein wird, müssen wir sehen.“

Janz vermutet ähnlich wie die amtierende EKD-Chefin, Bischöfin Kirsten Fehrs, dass die Studie mehr als die bislang bekannten 900 Fälle aufführen wird. „Wir werden sicherlich mit den Fallzahlen nicht hinter die katholische Kirche zurückfallen“, mutmaßt Janz. Laut offizieller Untersuchung zählte die katholische Kirche in Deutschland 3.677 Betroffene.

Erst im November erschütterte ein Fall mit prominenter Beteiligung die evangelische Kirche: EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus trat wegen eines mutmaßlichen Missbrauchsfalls in Siegen von ihrem Amt zurück. Auch dieser Fall soll nun aufgearbeitet werden. 

Nach all dem Unrecht, das ihr angetan wurde, ist Janz noch immer Mitglied der evangelischen Kirche, und will das auch bleiben. „Ich erlebe, dass meine Kirche in den letzten Jahren viel dazugelernt hat und etwas verändern will. Solange ich das so erlebe, sehe ich keinen Grund auszutreten.“

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