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22 Monate auf der Flucht

Donauschwabe aus Bretten: "Es gibt nicht nur Täter und nur Opfer"

Vor 75 Jahren flohen viele Donauschwaben aus den deutschen Siedlungsgebieten auf dem Balkan, um den kommunistischen Partisanenverbänden zu entkommen. Sebastian Gerber war einer von ihnen. Heute lebt er in Bretten und beschäftigt sich mit der Aufarbeitung der Geschichte seiner Volksgruppe. Er warnt vor Pauschalisierungen: "Es gibt nicht nur Täter und nur Opfer."

Szenen einer Kindheit: Sebastian Gerber mit Hut und Stab in der Batschka.
Szenen einer Kindheit: Sebastian Gerber mit Hut und Stab in der Batschka. Foto: Privat

Sebastian Gerber war acht, als die große Flucht begann. Es war der 11. Oktober 1944, das Erntedankfest war gerade vorbei, und seine Familie musste sich entscheiden: bleiben oder gehen. Von Norden rückte die Rote Armee vor, von Süden kamen die kommunistischen Tito-Partisanen. Die Flucht war riskant, es war Oktober und die Winter in der Batschka waren kalt und schneereich. Außerdem hatte die Familie den erst zweijährigen jüngsten Sohn dabei.

Aber auch der Verbleib in dem rein deutschen Dorf Kischker – heute heißt es Backo Dobro Polje – war nicht sicher: Vor allem die Partisanenverbände hatten es auf die verhassten Deutschen abgesehen, die mit Wehrmacht und SS Gebiete auf dem Balkan besetzt hatten und teilweise äußerst brutal mit der einheimischen Bevölkerung umgegangen waren.

Familie Gerber in ihrer alten Heimat. Der Vater wurde erst zur ungarischen Armee, dann zur Waffen-SS eingezogen - wie alle der Männer im Dorf Kischker. Sebastian Gerber (rechts) war acht, als die Familie floh, sein Bruder (links) gerade zwei Jahre alt.
Familie Gerber in ihrer alten Heimat. Der Vater wurde erst zur ungarischen Armee, dann zur Waffen-SS eingezogen - wie alle der Männer im Dorf Kischker. Sebastian Gerber (rechts) war acht, als die Familie floh, sein Bruder (links) gerade zwei Jahre alt. Foto: Privat

Dass die Mehrheit der deutschsprachigen Donauschwaben, die Ende des 18. Jahrhunderts in dem Dorf im heutigen Serbien angesiedelt worden waren, nicht an den Gräueltaten beteiligt gewesen waren, interessierte sie nicht: Sie machten keinen Unterschied zwischen Täter, Mitläufer oder Opfer.

Schau noch einmal zurück. Du wirst das Dorf nicht mehr sehen.

Sebastian Gerbers Großmutter war es, die die Entscheidung letztlich für alle fällte: „Wir gehen.“ Sechs Wagen mit Lebensmitteln und den wichtigsten Habseligkeiten wurden an einen Deutz-Traktor gehängt, der siebte Wagen wurde mit Treibstoff beladen. Insgesamt sechs Familien machten sich in diesem Gespann auf den Weg. Sie waren Teil eines größeren Trecks, der an diesem sonnigen Mittwoch im Oktober Kischker verließ.

Wo die Flucht enden würde, wusste niemand

„Schau noch einmal zurück. Du wirst das Dorf nicht mehr sehen.“ An die Worte seiner Mutter kann sich Sebastian Gerber noch erinnern. Dass die Reise in seine neue Heimat 22 Monate dauern würde, ahnte niemand. Wo die Flucht enden würde, auch nicht. Zunächst einmal ging es zusammen mit dem großen Treck Richtung Nordwesten.

Das Vorankommen war mühsam, erinnert sich Gerber, die Odyssee von Hunger geprägt. Lebensmittelvorräte hatte die Familie rasch aufgebraucht. Oft musste sie im Freien übernachten. Nicht selten wurde Gerber als Zigeuner beschimpft – die Flüchtlinge waren nicht überall willkommen. Die Angst, wie es weitergehen würde, war ein ständiger Begleiter, erzählt Gerber.

Im Erzgebirge fand die Familie vorübergehend eine Bleibe

Mit dem Zug gelangten der Achtjährige und seine Familie von Wien nach Schlesien, weiter nach Polen, schließlich ins zerbombte Dresden und weiter ins Erzgebirge, wo sie vorübergehend eine Bleibe fanden. Nachdem die Sowjets einmarschiert waren, mussten die Flüchtlinge den Ort verlassen. Die Repatriierung begann – und eine weitere kräftezehrende Odyssee mit dem Zug.

Nehmt Kartoffel mit, Baden ist arm.

Im Sommer 1946, die Gerbers waren bei einem Bauern in Bayern untergekommen, hieß es: Es geht weiter nach Baden. „Nehmt Kartoffel mit, Baden ist arm, der Winter ist lang“, riet der Bauer noch. Im Juli kamen die Gerbers im Karlsruher Durchgangslager für Flüchtlinge an. Ein Zug brachte die Flüchtlinge zum Bahnhof in Bretten. Von dort aus ging es mit dem Lastwagen in den Ortsteil Diedelsheim. Die Gerbers wurden in einem Zimmer in der Wohnung einer Familie untergebracht.

Ankunft nach 22 Monaten

„Wir waren angekommen, nach 22 Monaten“, notiert Gerber in seinen Memoiren.„Angekommen, aber noch längst nicht angenommen“, schreibt er weiter. Die Flüchtlinge wurden misstrauisch beäugt. Auf Anordnung der Verwaltung musste man Wohnraum mit ihnen teilen, der nach dem Krieg ohnehin schon knapp war.

Von gut 57.000 Wohnungen aus dem Jahr 1939 waren 1947 nach Angaben des Stadtarchivs nur noch rund 25.000 lediglich leicht beschädigt. Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung durch die Flüchtlinge, die nicht nur vom Balkan, sondern auch aus den Ostgebieten des vormaligen Deutschen Reichs kamen.

"Wir danken für unsere neue Heimat": Heimatvertriebene bei einer Veranstaltung in Karlsruhe.
"Wir danken für unsere neue Heimat": Heimatvertriebene bei einer Veranstaltung in Karlsruhe. Foto: Donauschwäbische Heimatstube Karlsruhe-Neureut

Für den Stadtkreis Karlsruhe war eine Aufnahmequote für Flüchtlinge von zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung vorgesehen, das waren 19.000 bis 28.500 Menschen. Mitte Oktober 1945 waren schon 12.700 Migranten in der Fächerstadt angekommen. Die Not sorgte für einen Bauboom: Bis 1950 wurden 27.000 Wohnungen gebaut.

Als Kind war die Integration leicht

Für Sebastian Gerber verlief das Leben schnell wieder in geregelten Bahnen. Er kam in die Schule, spielte Fußball mit Gleichaltrigen. Für ihn als Kind sei die Integration, das Ankommen, leicht gewesen, sagt er. Seine Eltern hätten mehr Probleme gehabt. Dem Vater gelang der Wiedereinstieg in den Kaufmannsberuf nicht, er nahm einen Job im Straßenbau an. Das Geld, das die Familie hatte, floss vor allem in die Bildung der Söhne. Beide wurden Lehrer, Sebastian Gerber für Geografie und Mathematik, später war er Realschulrektor.

Heute ist Gerber 83, er lebt mit seiner Frau in seinem Haus in Diedelsheim. Wenn er spricht, rollt er das „R“, wie viele der Heimatvertriebenen aus dem ehemaligen Jugoslawien, mit denen Gerber regen Kontakt pflegt. Mit der gemeinsamen Geschichte beschäftigt er sich intensiv. Bücher über die Donauschwaben füllen die Regale in seinem Haus in Diedelsheim.

Im serbischen Lager Jarek starben 7.000 Donauschwaben

Mehrere Male ist Gerber schon in die alte Heimat gereist, etwa 2017, als im serbischen Jarek eine Gedenkstätte eingeweiht wurde für die rund 7.000 Donauschwaben, die in dem dortigen Internierungslager umkamen. Die Einweihungsfeier war so etwas wie der Bruch mit einem Tabu, sagt Gerber. Die serbische Bevölkerung habe sich lange dagegen gesperrt, dass die Gräueltaten in dem Vernichtungslager öffentlich werden. Dass sie durch die Einweihung des Denkmals von oberster staatlicher Stelle anerkannt würden, sei ein großer Schritt in der Aufarbeitung.

Es gibt nicht nur Täter und nur Opfer

Die Aufarbeitung der Geschichte der Donauschwaben ist Gerber wichtig – auch weil er findet, dass zu lange zu Vieles verschwiegen wurde. Etwa dass in Internierungslagern wie in Jarek und durch Massenerschießungen nach dem Zweiten Weltkrieg rund 60.000 Donauschwaben starben. Dabei sieht der 83-Jährige aber nicht nur die Serben in der Schuld. „Es gibt nicht nur Täter und nur Opfer“, betont er, wissend dass der Hass der Tito-Partisanen auch durch die Brutalität der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS in den besetzten Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens befeuert wurde.

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