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Berührende Momente

Mozart auf Station: Wie ein Verein mit Musik die Herzen bedürftiger Menschen bewegt

Diese Auftritte brauchen Mitgefühl: Der Verein Live Music Now Oberrhein vermittelt besondere Erlebnisse für Menschen, die nicht ins Konzert gehen können.

Live Music Now Konzert in der KiTa Merlin
Für ihren Auftritt im Kinderhaus Merlin benötigen Pedro Vidinha Pandeirada am Klavier und die Sängerinnen Maine Takeda und Gerda Iguchi viel Einfühlungsvermnögen. Die Kinder hingen an ihren Lippen. Foto: Martin Heintzen

„Einmal hin, einmal her, rrrrrund herum, das ist nicht schwer!“ Jedes Kind kennt das Lied. Längst nicht jedes Kind aber kann das muntere Stückchen „Brüderchen, komm’ tanz mit mir“ aus der beliebten Märchenoper „Hänsel und Gretel“ auch so erleben wie an diesem Morgen in der Kita Merlin.

Dort geht das, weil es einen Verein gibt, der ein Auge hat unter anderem auf Kinder, die wohl nie ein Opernhaus von innen sehen werden. Selbst dann nicht, wenn sie älter sind. Weil sie dort stören könnten, wenn sie vor Freude laut aufschreien, oder wenn sie rasseln, weil sie sich einfach unwohl fühlen ohne ihre Rassel in der Hand.

Das fordert sehr viel Einfühlungsvermögen von den Musikern.
Wiebke Fabienke, Leiterin Kinderhaus Merlin Bruchsal

Hier aber, im Kinderhaus Merlin, dürfen sie sein wie sie sind. Auch jetzt, wenn gleich ein Konzert beginnt. In einem Industriegebiet in Bruchsal steht diese koedukative Einrichtung für Kinder mit und ohne Behinderung.

Wie ein überfüllter Strand wirkt die große Aula in der Mitte, wo sich die Kleinen aus allen Gruppen gemeinsam mit ihren Erzieherinnen, Sonderpädagogen und Therapeuten versammelt haben für eine besondere halbe Stunde.

Fast 100 Leute tummeln sich am Boden, auf Sitzpolstern oder in ihren Rollstühlen. Nur ein kleiner Halbkreis bleibt frei für die beiden Sängerinnen und den Mann am Klavier. Es rasselt. Hinten links plappern zwei kleine Freundinnen im Schneidersitz, zwei Jungs raufen anscheinend um den besseren Platz. Ein Wuseln und Zurechtruckeln. „Bscht!“, erinnert die Erzieherin, man kann es ja wenigstens versuchen.

Viel Empathie für ein besonderes Publikum

Doch dann ist es mit einem Mal ganz von alleine mucksmäuschenstill. Alle hängen jetzt an den Lippen von Gerda Iguchi und Maine Takeda, die mit strahlendem Lächeln und großen Augen im Duett singen und tanzen.

Konzert von Live Music Now im Kinderhaus Merlin Bruchsal
Musik mit Stofftieren: Maine Takeda und Gera Iguchi geben alles, um die Aufmerksamkeit ihres Publikums in der inklusiven Kindertagesstätte Merlin in Bruchsal zu gewinnen. Foto: Isabel Steppeler

So glockenklaren, vollmundigen und kräftigen Gesang mitten in ihrer Kita? Das gab es für die meisten Kinder noch nie. Und dann malen sich die beiden auch noch gegenseitig Schnurrhaare ins Gesicht! Sie miauen singend und singen miauend – das „Katzenduett“ von Gioachino Rossini.

Stofftiere wirbeln in ihren Armen zu Mozarts „Pa-pa-pa-pa-Pagena!“ aus der Zauberflöte. Zwischendurch – die Sängerinnen sind in die Turnhalle verschwunden und ziehen sich schnell um – spielt Pedro Vidinha Pandeirada, der Mann am Klavier, kurz alleine ein munteres „Alla Turca“. Das Programm ist wie der Titel verspricht: „märchenhaft“. Ein Mädchen im Rollstuhl lächelt mit geschlossenen Augen, sie wirkt friedlich.

Sängerinnen sind gerührt

„Das fordert sehr viel Einfühlungsvermögen von den Musikern“, sagt Wiebke Fabienke, die Leiterin der Kinderhauses, nach dem Konzert. „Kinder kann man nicht beeinflussen. Für viele war es der erste Kontakt mit klassischer Musik.“ Und der war ganz offensichtlich gut.

Zwischendurch ist mir die Stimme weggebrochen, weil ich so überwältigt war von diesem Moment.
Gerda Iguchi, Sopranistin und LMN-Stipendiatin

Die Kinder sind inzwischen wieder zurück in ihren Räumen. Beide Sängerinnen sind noch sichtlich gerührt. „Zwischendurch ist mir die Stimme weggebrochen, weil ich so überwältigt war von diesem Moment“, sagt Gerda Iguchi, die Gesang studiert an der Hochschule für Musik in Karlsruhe.

Von dort rekrutiert der Verein Yehudi Menuhin – Live Music Now Oberrhein (LMN) Studierende für besondere Konzerte. Sie bringen Musik zu Menschen, die aufgrund ihrer Lebensumstände nicht ins Konzert gehen können.

Live Music Now gibt es seit 1977

Es ist ein Geben und Nehmen. „Musik heilt, Musik tröstet, Musik bringt Freude“. Diesem von ihm propagierten Zitat ließ Yehudi Menuhin (1916 bis 1999) große Taten folgen, die bis heute wirken.

Der weltberühmte US-amerikanische Geiger und Dirigent, der sich über viele Jahrzehnte auch für Frieden, Völkerverständigung, Demokratie und Menschenrechte einsetzte, verstand Musik als Beitrag zu einer besseren Gesellschaft. Ausgehend davon gründete er 1977 in Großbritannien die Organisation Live Music Now (LMN).

Seit 1992 tragen gemeinnützige Vereine Menuhins Erbe auch im deutschsprachigen Raum weiter. Sie vermitteln Musik als Therapie einerseits und fördern andererseits junge Künstler am Beginn ihrer Karriere.

Eintrittsfreie Konzerte von Krankenhaus bis Gefängnis

Rund 20 deutsche, vier österreichische und ein schweizer Verein organisieren eintrittsfreie Konzerte für Menschen, die dauerhaft oder vorübergehend in Krankenhäusern, Altenheimen, Waisenhäusern, Brennpunktschulen, Strafanstalten, Hospizen oder anderen sozialen Einrichtungen leben.

Auch die Kita Merlin will der Verein nach Corona von nun an wieder zweimal jährlich besuchen. Wiebke Fabienke ist darüber sehr dankbar. „Weil es wohltuend ist“, sagt die Pädagogin. „Und weil es nicht immer einfach ist, mit Kindern mit Handicap zu öffentlichen Veranstaltungen zu gehen.“

Die kleinen Konzerte in der Aula aber sind kurzweilig. Und wem es zu viel wird, kann sich in andere Räume zurückziehen. „Es ist unsere Aufgabe, den Kindern einen Bereich zu eröffnen, den sie sonst vielleicht nicht erleben würden.“

Fabienke denkt dabei auch an Familien, die sich einen Besuch kultureller Veranstaltungen finanziell nicht leisten können. Dank der Kooperation mit Live Music Now sind die Konzerte ein Geschenk. „Das ist kulturell unheimlich wertvoll für die Kinder. Wir genießen das alle miteinander.“

Wertvolle Übung für menschliche und künstlerische Reife

Das gilt auch für die andere Seite. Die Studierenden sammeln mehr noch als nur Bühnenerfahrung. Sie üben die Kunst des Vortragens in schwierigen Situationen.

„Uns ist es wichtig, dass die jungen Musiker üben können vor ungewohntem Publikum“, sagt Siegrid Oesterlink. Sie ist Schatzmeisterin bei LMN-Verein Oberrhein und begleitet die Studierenden auf die Konzerte. Ehrenamtlich.

Für ihre Auftritte erhalten die Studierenden ein aus Spendengeldern finanziertes Stipendium. Eine Jury wählt die Musiker nach strengen Kriterien. „Gut sind sie alle“, sagt Oesterlink. „Aber sie sollen auch lernen, wie man das Publikum fasst. Zu Kindern den richtigen Draht zu finden, ist etwas ganz anderes als zum Beispiel im Gefängnis zu spielen.“

Die Kinder hängen einem an den Lippen und reagieren sofort.
Gerda Iguchi, Sopranistin und LMN-Stipendiatin

Der Verein sieht solche Auftritte als bedeutenden Weg für eine erfolgreiche Karriere sowie zu menschlicher und künstlerischer Reife. Auch emotional fließt sehr viel zurück bei Konzerten wie diesen, berichten die Künstlerinnen.

„Erwachsenes Publikum ist so hart“, vergleicht die Sängerin Gerda Iguchi. „Aber die Kinder hängen einem an den Lippen und reagieren sofort auf jede noch so kleine Überraschung oder Aktion. Das hat so einen Spaß gemacht, meine Güte, echt!“

Der Klinikabend ist ja recht lange. Live-Musik ist da eine tolle Sache.
Christof Müller, leitender Facharzt am Städtischen Klinikum Karlsruhe

Eine Woche später im Städtischen Klinikum. Unfall-, Hand- und Orthopädische Chirurgie. Eyal Heimann und Adrian Kratzert sehen ihr Publikum gar nicht. Der Cellist und der Geiger sitzen im Flur vor den geöffneten Türen der Station. Ein paar Pfleger gesellen sich dazu und genießen die seltenen Töne vor der Nachtschicht. Nur eine Frau mit Verband am Kopf und ein Mann mit Gips im Rollstuhl kommen aus ihren Zimmern. Alle anderen können nur von ihren Betten aus zuhören.

Abendmusik im Städtischen Klinikum

„Der Klinikabend ist ja recht lange“, sagt Christof Müller, der die Klinik leitet. „Um fünf oder halb sechs gibt es Abendessen und dann wird gute Nacht gesagt. Von daher ist es sehr schön, wenn Musik kommt. Das ist eine tolle Sache.“

Konzert Live Music Now im Städtischen Klinikum Karlsruhe Haus M
Im Städtischen Klinikum Karlsruhe geben Adrian Kratzert (links) und Eyal Heimann ein kleines Abendkonzert vor den geöffneten Türen der Station. Foto: Isabel Steppeler

Müller begleitet die Musiker bei ihrer Tour von Flur zu Flur, klopft an den Türen und spricht mit warmer, freundlicher Stimme: „So, guten Abend, jetzt kommt ein kleines Konzert für Sie.“

Der Applaus nach jedem Stück ist leise. „Dazu bitte ein Glas Rotwein!“, in dem Scherz aus Zimmer 13 schwingt ein wenig Sehnsucht mit. „Ach Gott, so schee...“, seufzt eine Frau aus der Ferne.

Plötzlich Energie in den Augen

Gerda Iguchi und Maine Takeda können die Reaktionen manchmal sogar nur von den Augen ablesen. Vor allem dann, wenn sie in Altersheimen singen. „Die Musik ist dort für einige gar nicht mehr greifbar, unterbewusst aber schon. Da hatten wir super-schöne Momente“, erinnert sich Iguchi. „Bei manchen, deren Blick müde und leer ist, habe ich plötzlich Energie in den Augen gesehen“, erzählt Takeda. „Ich glaube immer dann, wenn sie ein Lied aus alten Zeiten wieder erkennen.“

Heilen, trösten, erfreuen. Iguchi erzählt von ihrem Großvater, der kürzlich starb. „Ich habe ihm in den letzten Wochen sehr viel vorgesungen.“

95 Konzerte hat der Verein allein im vergangenen Jahr geboten. Keines davon war zu viel.

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