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Kopfgelenkinstabilität

„Als ob mein Kopf von der Wirbelsäule rutscht“: Stefan Walter aus Willstätt kämpft gegen seltene Erkrankung

Nach einem Sturz entwickelt Stefan Walter seltsame Symptome, die nicht recht zusammenpassen wollen. Über Jahre tappen die Ärzte im Dunkeln, bis ein Spezialist sein Kopfgelenk untersucht. Seither versucht Walter alles, um wieder normal leben zu können.

Stefan Walter sitzt an seinem Küchentisch. Neben sich steht ein Laptop, der eine MRT-Aufnahme seines Kopfes zeigt.
Stefan Walter zeigt eine Aufnahme aus dem MRT, die seine Kopfgelenkinstabilität sichtbar macht. Für Behandlung und Untersuchung der seltenen Erkrankung hat der Familienvater bereits 10.000 Euro ausgegeben. Foto: Christoph Kölmel

An der Wand in Stefan Walters Wohnzimmer in Willstätt hängen Bilder aus einem anderen Leben. „Das war im Mai 2019, da waren wir noch im Familienurlaub in der Türkei“, sagt er. „Wenn ich da hinschaue, frage ich mich, ob es jemals wieder so sein wird.“

Nach dem Urlaub geht Walter wieder zur Arbeit. Seit 18 Jahren steht er bei einem Automobilzulieferer in Bühl am Band. Wenig später stürzt er dort schwer. Sechs Wochen ist er krankgeschrieben, dann macht er weiter. Doch etwas ist anders als zuvor.

Instabiles Kopfgelenk legt den ganzen Körper lahm

Erst Jahre später wird Walter erfahren, wie fatal der Sturz wirklich war. Er hat die Kopfgelenke rund um die ersten beiden Halswirbel mit ihren Bändern beschädigt. Die Wirbel sitzen nun zu locker und drücken auf die Blut- und Nervenbahnen, die zwischen Kopf und Körper verlaufen. Das Krankheitsbild „Kopfgelenkinstabilität“ ist komplex und schwer zu diagnostizieren. Walter nimmt es zunächst gar nicht wahr.

Die Symptome kommen schleichend. Einige Monate nach dem Sturz entwickelt Walter einen starken Tinnitus. „Das hörte sich an, als ob ein Zug durchfährt“, sagt er. Es folgen Herzrasen, plötzliche Übelkeit und Gedächtnisprobleme. Walter ist ständig erschöpft, seine Energie reicht für den Alltag kaum noch aus.

Einmal sitzt er zu Hause einer Person gegenüber, die er nicht zuordnen kann. Es ist seine Tochter.

Ich hatte ein Gefühl, als ob mein Kopf von der Wirbelsäule runterrutscht.
Stefan Walter
Patient

„In dem Moment habe ich vergessen, wer sie ist“, erinnert sich Walter. „Ich hatte ein Gefühl, als ob mein Kopf von der Wirbelsäule runterrutscht.“

Bei der Akkordarbeit am Band macht Walter Fehler, er ist nervös und fahrig, ständig hämmert das Herz gegen seinen Brustkorb. Irgendwann geht es nicht mehr, er gibt seinen Arbeitsplatz auf.

Walter will wissen, was mit ihm los ist. Er beginnt eine Odyssee durch die Fachgebiete der Medizin, besucht Kardiologen, Endokrinologen, Neurologen und Orthopäden. Keiner kann helfen. Das käme nur vom Stress, er habe wohl einen Burn-out. Solche Sätze hat Walter oft gehört. „Wenn die Ärzte selbst nicht wissen, was es ist, dann muss es ja psychisch sein“, sagt er heute bitter.

Doch er fügt sich und geht auch dieser Spur nach. Ein paar Wochen verbringt er in einer psychosomatischen Akutklinik. Dort führt er viele Gespräche, nimmt Antidepressiva. Besser geht es ihm danach nicht.

Privatarzt deckt wahren Grund für Symptome auf

„Jetzt bin ich hier gefangen“, sagt Walter. Er sitzt zu Hause am Küchentisch, trägt eine schwarze Halskrause, die seine Halswirbel und Bänder entlastet. Immer wieder vibriert sein Handy auf dem Tisch. Er ist in einer Chatgruppe mit anderen Betroffenen vernetzt. Ein Dauerfeuer aus Nachrichten und Bildern, alles kreist um die Erkrankung.

Es sind Menschen wie Stefan Walter. Leben im Stillstand, vage Hoffnungen, ungewisse Zukunft.

Vor ihm stapeln sich Dokumente aus den vergangenen drei Jahren. Diagnosen, Rechnungen, Empfehlungsschreiben. Sie erzählen die Geschichte eines Mannes, der viel versucht und noch immer wenig erreicht hat.

Das läuft immer so, es geht hin und her zwischen vielen Kollegen.
Sergiu Gaivas
Sektionsleiter Neurochirurgie am Ortenau Klinikum

Seine Suche nach Antworten führt Walter im Februar 2022 zu einem Privatarzt in Frankfurt. Der rät ihm zu einem MRT, das nicht im Liegen, sondern im Sitzen gemacht wird. Durch die Belastung, die das Gewicht des Kopfes dabei auf die Halswirbel ausübt, wird Walters Erkrankung erstmals sichtbar.

Die Aufnahme aus dem MRT zeigt die Engstelle in Stefan Walters Kopfgelenk. Statt 4,5 Millimetern sind dort nur noch 0,2 Millimeter Platz.
Die Aufnahme aus dem MRT zeigt die Engstelle in Stefan Walters Kopfgelenk. Foto: Christoph Kölmel

Stefan Walters Weg sei typisch für Patienten mit Kopfgelenkinstabilität, sagt Sergiu Gaivas, Sektionsleiter der Neurochirurgie am Ortenau Klinikum in Offenburg. „Das läuft immer so, es geht hin und her zwischen vielen Kollegen.“ Weil die Symptome sehr diffus und die Kopfgelenke anatomisch so komplex seien, dauere es lange bis zur Diagnose.

Auf die erste Erleichterung nach der Diagnose folgen bei Walter neue Sorgen. Die Behandlung der Kopfgelenkinstabilität ist experimentell und teuer, Erfolg nicht garantiert. Walters Krankenkasse übernimmt daher weder die Kosten für die Behandlung noch für weitere Untersuchungen bei Privatärzten.

In Göppingen findet Walter einen spezialisierten Arzt, der ihm Spritzen in Nacken und Halswirbelsäule setzt. Sein Zustand bessert sich etwas. Als er zur fünften Behandlung in Göppingen ankommt, hat die Praxis geschlossen. Der Arzt, der Stefan Walter zurück in sein altes Leben helfen sollte, ist tot.

Ich habe sofort meine Frau angerufen und nur noch geweint.
Stefan Walter
Patient

Vor Walter tut sich ein Abgrund auf. „Ich habe sofort meine Frau angerufen und nur noch geweint“, sagt er. Eigentlich sei er nicht nah am Wasser gebaut. „Aber was ich die letzten Jahre geheult habe …“

Mit dem Tod des Arztes endet auch die Behandlung. Knapp 10.000 Euro hat Walter nach eigenen Angaben bisher für Untersuchungen und Behandlung gezahlt, die Ersparnisse der Familie sind aufgebraucht.

Experimentelle Stammzellentherapie kostet 70.000 Euro

Seine Hoffnungen ruhen nun auf einer Stammzellentherapie bei einem Arzt in den USA. Kostenpunkt inklusive Flügen und Unterkunft: mindestens 70.000 Euro. Weil er das Geld nicht aufbringen kann, sammelt er auf der Online-Plattform „Betterplace“ Spenden. Knapp 4.500 Euro hat er bisher zusammen.

Von dem amerikanischen Arzt habe er aus Selbsthilfe-Foren im Internet erfahren. Nutzer aus aller Welt hätten dort geschildert, dass er ihnen sehr geholfen habe. „Bewiesen ist es aber nicht“, räumt Walter ein. Er greift nach jedem Strohhalm.

Die letzte Möglichkeit, die ihm sonst bleibt, ist eine operative Versteifung des Kopfgelenks. „Damit verliert der Kopf allerdings seine Beweglichkeit“, sagt Sergiu Gaivas.

Walter ist 41 Jahre alt, seine Kinder sind 12 und 14. Irgendwie muss es doch weitergehen, sagt er. Aber auch: „Das fühlt sich an, wie wenn du etwas verloren hast. Ich habe kein Leben mehr.“

Seine Frau habe ihn vor seinem Sturz oft gefragt, wie er es schaffe, auch nach langen Nachtschichten noch so fröhlich zu sein. Das wisse er inzwischen selbst nicht mehr, sagt Walter. Er glaube manchmal, das sei ein anderer Mensch gewesen.

Spenden für Stefan Walter

Auf der Plattform Betterplace sammelt Stefan Walter unter https://www.betterplace.me/hilfe-fuer-stefan-w Spenden für eine Stammzellenbehandlung in der Centeno-Schultz-Clinic in den USA.

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