Skip to main content

Europas Kulturhauptstadt 2024

Schleimpilze im All und Sauna-Debatten: Tartu feiert estnische „Überlebenskunst“

Die große Party steigt ab 26. Januar: Tartu, die älteste Stadt des Baltikums, zeigt mit rund 1.000 Events bis zum Jahresende, wie der kreative Freigeist in russischer Nachbarschaft florieren kann.

Innenstadt der estnischen Stadt Tartu mit einer Installation zum Kulturjahr 2024.
Die fast 1.000 Jahre alte Universitäts- und Hansestadt Tartu ist eigentlich ganz entspannt – nur nicht in diesem Jahr, wenn der ganze Kontinent auf die Wiege der estnischen Kultur blicken wird. Bis zu einer Million Gäste werden in Europas Kulturmetropole-24 erwartet. Foto: Alexei Makartsev

Noch sechs Tage, dann tanzen und singen Künstler am Ufer des Flusses Emajõgi, fährt ein „Mutantenauto“ in Form eines Riesen-Igels mit leuchtenden Stacheln durch die Straßen zum Nationalen Museum Estlands, wo ein sechsstündiger Open-Air-Rave mit den bekanntesten DJs und Musikern des Landes steigt.

So startet am 26. Januar das estnische Tartu in eine kreative Party, die ein ganzes Jahr dauern soll.

Tartu ist mit 97.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Estlands

Die fast 1.000 Jahre alte Universitäts- und Hansestadt mit 97.000 Einwohnern ist die Wiege der estnischen Kultur und zweitgrößte Metropole der kleinen Baltenrepublik am östlichen Rand der EU.

Als eine der drei „Europäischen Kulturhauptstädte 2024“ (neben Bodø in Norwegen und Bad Ischl in Österreich) will Tartu Einheimischen und Besuchern rund 1.000 meist kostenfreie Einzel-Events anbieten, die unter dem ungewöhnlichen Motto „Arts of survival“ (Überlebenskünste) stehen.

Wir müssen irgendwie diesen Krieg überstehen.
Hella Priimets
Organisationskomitee Tartu 2024

„Bei der Bewerbung um den Titel im Jahr 2018 haben wir an unser Überleben in Zeiten des Klimawandels gedacht“, erzählt Hella Priimets vom Organisationskomitee Tartu-24. „Nach dem erteilten Zuschlag durch die EU kam Corona, es ging dann um das Überleben in der Pandemie. Und nun müssen wir irgendwie diesen Krieg überstehen. Sie sehen, das Konzept ist wandelbar“, sagt lachend die junge Frau bei einem Gespräch in einem Café in Tartus Innenstadt.

Die südestnischen Regionen Põlva, Valga, Võru und Tartu, die das Kulturjahr gemeinsam veranstalten, grenzen direkt an einen schwierigen Nachbarn an. Die nordrussische Gebietsmetropole Pskow ist gerade einmal 30 Kilometer entfernt.

Dass der Machthaber in Moskau souveräne Staaten der früheren Sowjetunion als russisches neokoloniales Interessengebiet sieht und in der Nachbarschaft gewaltsam Grenzen verschieben will, nehmen die Esten natürlich wahr – aber es beschäftigt sie nicht übermäßig.

Ein Restaurantschild in der Stadt Tartu.
In diesem „Restoran“ kann man einiges an „Drinkgeld“ zurücklassen: Dorpat, wie das estnische Tartu früher hieß, war einst eine blühende Hansestadt im Baltikum und beherbergte die einzige deutschsprachige Universität des russischen Zarenreiches. Foto: Alexei Makartsev

„Wir können geografische Gegebenheiten nicht ändern,“ sagt Priimets, „aber wir können uns auf unsere Fähigkeiten verlassen und schauen deshalb optimistisch in die Zukunft.“ Im Kalten Krieg waren in Tartu sowjetische Atombomber stationiert, weswegen die Stadt in den ersten Minuten eines Atomkriegs ausradiert werden sollte – so die entsprechende US-Planung.

Heute ist das Überleben für die Stadtbewohner kein Stemmen gegen den Untergang mehr. Es kann und muss auch Spaß machen.

Tartu ist die „Stadt der guten Gedanken“

Die „Stadt der guten Gedanken“, wie sich Europas Kulturmetropole gerne nennt, präsentiert ihren Gästen einen heiteren Mix aus charmanten Traditionen und modernen, frechen Ideen.

Einerseits will Tartu mit seinen schönsten Seiten punkten: der größten Backstein-Kirche Nordeuropas und dem Rathaus aus dem 18. Jahrhundert, den Cafés und Kneipen rund um die Universität (gegründet 1632), der quirligen Shoppingmeile Küüni, der Bar im früheren Schießpulverkeller mit einer elf Meter hohen Decke (eingetragen ins Guinness-Buch der Rekorde) und dem „Schiefen Haus“, der wie der berühmte Turm von Pisa zu kippen scheint.

Ein Pub im ehemaligen Schießpulverkeller in der Stadt Tartu.
Die elf Meter hohe Decke dieses Bierkellers ist die höchste der Welt. Foto: Alexei Makartsev

Andererseits – und das ist ungewöhnlich – verzichtete Tartu gänzlich darauf, einen Teil des Kulturhauptstadt-Budgets von 4,5 Millionen Euro in die Sanierung seiner Straßen und Plätze zu stecken, um diese für Touristen attraktiver zu wirken.

Das Geld speist stattdessen einen kreativen Ideenrausch, der die Bedeutung der Stadt für Europa, den Planeten, die Menschheit und das Universum erkunden soll. Diese vier Teile des Programms definieren die zukunftsgerichtete estnische „Überlebenskunst“.

Kaidi-Lisa Kivisalu hat seit 2020 Tartus Wandel zum Kulturmagneten begleitet. „Erst waren die Einwohner von der Idee nicht begeistert“, erzählt sie, „aber jetzt ist die Begeisterung groß. Denn alle sehen: Es passiert!“

Sie freut sich besonders auf einen Fischsuppe-Kochwettbewerb, dessen Teilnehmer mit ihren Anglergeschichten um den lautesten Beifall des Publikums wetteifern werden. Ihr zweiter Favorit im Kulturprogramm ist eine Dokumentation über Schleimpilze an Bäumen, deren farbenfrohe Fraktalformen sie an kosmische Nebel erinnern: „Dieser Schleim ist wunderschön!“

„Man bekommt den Titel Kulturhauptstadt Europas nicht für das, was die Stadt verkörpert, sondern für das, was sie werden will“, sagt der PR-Profi Kivisalu.

Wie lässt sich also das zukünftige Image Tartus treffend beschreiben, das im Sommer neben einem Massenküssen-Event noch ein Sauna-Debattenfestival veranstalten will und dessen Besucher in einem zwei Meter hohen Labyrinth aus Hanf umherirren sollen? „Wir sind hier ein wenig schräg“, gibt die junge Frau lachend zu.

Genetische Daten von Esten werden in Tartu zum Kunstwerk

Ihre Kollegin Hella Priimets empfiehlt den Tartu-Besuchern eine neue Installation des Künstlers Ryoji Ikeda, die die gesammelten genetischen Daten von 200.000 Esten thematisieren soll.

Der weltbekannte Komponist elektronischer Musik aus Japan werde außerdem gemeinsam mit dem Philharmonischen Kammerchor ein weiteres audiovisuelles Kunstwerk erschaffen: „Da kommen zwei Welten zusammen“, schwärmt Priimets. „Ich bin außerdem gespannt auf das Demokratiefestival, bei dem wir auch den gegenwärtigen Krieg in Europa diskutieren wollen.“

Tartu hatte sich schon einmal im Jahr 2011 um den Titel Europas Hauptstadt beworben. Damals hatte aber die estnische Hauptstadt Tallinn den Zuschlag erhalten. „Nun sind wir dran zu scheinen“, freut sich Priimets. „Meist kommen jährlich etwa 20.000 Touristen in meine Stadt. In diesem Jahr rechnen wir mit einer Million.“

nach oben Zurück zum Seitenanfang