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Hinterbliebene möchten Wiedergutmachung

Zwangsrekrutierung im Zweiten Weltkrieg: Waisen fordern endlich Gerechtigkeit

Waisen zwangsrekrutierter Soldaten aus dem Elsass und der Moselle fordern bis heute Anerkennung und Wiedergutmachung. Der Vater des Elsässers Gérard Michel starb 1944 als Soldat der Wehrmacht in einem Kriegsgefangenenlager.

Gérard Michel erinnert daran, was es bedeutet, ohne Vater aufzuwachsen. Er schildert Journalisten in Straßburg sein Anliegen.
Gérard Michel erinnert daran, was es bedeutet, ohne Vater aufzuwachsen. Er schildert Journalisten in Straßburg sein Anliegen. Foto: Jean-Marc LOOS Jean-Marc LOOS

Gérard Michel ist der erhobene Zeigefinder, der niemals müde wird, auf das Unrecht hinzuweisen. Daran zu erinnern, was es für ihn und andere bedeutet hat, nach dem Krieg ohne Vater aufzuwachsen.

Vor allem aber: Dass diese Väter in der Uniform eines Unrechtsstaates ihr Leben gelassen haben, der sie zwangsrekrutiert hatte. Wer sich widersetzte, dem drohten Straflager oder Hinrichtung. Der riskierte zudem Repressalien für seine Familie. „350 Männer wurden hingerichtet“, sagt Michel, „weil sie versucht hatten, sich der Rekrutierung zu entziehen“.

130.000 Elsässer kämpften für die Wehrmacht

130.000 Männer aus dem Elsass und dem heutigen Département Moselle, die jüngsten erst 1926 geboren, kämpften so ab Sommer 1942 in der Wehrmacht. Etwa 40.000 von ihnen kehrten nicht zurück. Gérard Michels Vater war kurz vor Kriegsende eingezogen worden, kam an die Ostfront und starb in einem russischen Kriegsgefangenenlager auf heute polnischem Gebiet bei Debica.

Dort in der Nähe hat ihn der Sohn vor 15 Jahren auf einem deutschen Soldatenfriedhof bei Przemysl, einer Stadt im Südosten Polens, ausfindig gemacht. „Er war nur kurze Zeit interniert“, rekapituliert Michel die Details. 17. Januar bis 27. Juni 1945. Den Namen seines Vaters hat er in einer Liste nachgelesen. Bis heute steht er dort in deutscher Sprache geschrieben. Emil Michel. Für Gérard Michel, geboren im Dezember 1944, den sein Vater nie gesehen, der seinen Vater nie gesehen hat, ein zusätzlicher Schmerz.

Keine Rente vom deutschen Staat

Der Umgang mit dem Verlust der Waisen erscheint dem bald 80-jährigen Sohn wie ein blinder Fleck. Die Hinterbliebenen deutscher Wehrmachtssoldaten, die gefallen waren, erhielten in der Bundesrepublik eine staatliche Waisenrente. Für Gérard Michel, Präsident eines Vereins, der für die Anerkennung der Kriegswaisen im Elsass und der Moselle kämpft, hätte der neue deutsche Staat nicht nur längst das Unrecht an ihnen anerkennen, sondern auch eine Rente zahlen müssen.

Eine erste Klage der „Orphelins de pères malgré-nous d’Alsace-Moselle“ vor dem zuständigen Landessozialgericht Saarbrücken war 2022 abgewiesen worden. Der Verein ging in Revision. Vor wenigen Wochen hat das Gericht schriftlich abgelehnt, den Fall überhaupt zu verhandeln. Eine Entschädigung für die Hinterbliebenen französischer [sic] Kriegsopfer, so die Begründung, sei nach deutschem Recht nicht möglich.

„Die Deutschen sind ohne unsere Zustimmung einmarschiert“, sagt Michel. Sie hätten sich benommen, als sei es ihr Land. „In der Logik der Annexion waren unsere Väter Deutsche, wir sind deshalb Hinterbliebene deutscher Kriegswaisen.“ Als letzte Chance fasst er nun eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ins Auge.

Gérard Michel erinnert daran, was es bedeutet, ohne Vater aufzuwachsen. Er schildert Journalisten in Straßburg sein Anliegen.
Gérard Michel erinnert daran, was es bedeutet, ohne Vater aufzuwachsen. Foto: Jean-Marc LOOS Jean-Marc LOOS

Bundesregierung sieht Verpflichtung abgegolten

Aus Sicht der Bundesregierung ist die Verpflichtung gegenüber den Zwangsrekrutierten im Elsass und der Moselle, auch ihren Nachkommen gegenüber, seit mehr als vier Jahrzehnten abgegolten. 1981, als Helmut Schmidt Bundeskanzler und Valéry Giscard d’Estaing französischer Staatspräsident war, verabredeten Deutschland und Frankreich eine Entschädigungszahlung in Höhe von 250 Millionen Mark, überwiesen auf das Konto einer eigens gegründeten Stiftung.

Die Fondation Entente Franco-Allemande zahlte einmalig umgerechnet knapp 1.400 Euro an die zurückgekehrten Zwangsrekrutierten und die Familien der Gefallenen. Eine monatliche Waisenrente bis zur Volljährigkeit, wie sie Hinterbliebene von deutschen Angehörigen der Wehrmacht erhalten haben, stand nicht zur Debatte.

Der deutsche Staat habe sich auf diese Weise günstig aus der Verantwortung gestohlen, kritisiert Michel. Gleiches Leid hätte in gleicher Weise abgegolten werden müssen.

Angst vor weiteren Entschädigungen?

Der mögliche Grund? Das NS-Regime hatte auch in anderen Ländern Europas, in Polen, dem ehemaligen Jugoslawien oder Belgien zwangsrekrutiert. Die Zahl der Soldaten, die sich die deutsche Wehrmacht auf diesem Wege einverleibt hat, schätzt der Straßburger Historiker Frédéric Stroh auf 500.000, die der Gefallenen auf mindestens 120.000 bis 150.000, ein Teil von ihnen habe Kinder hinterlassen, die wie Michel Entschädigung verlangen könnten.

Gérard Michels Lebenskampf gleicht einem Wettlauf gegen die Zeit. Von anfangs 20.000 Kriegswaisen der ehemaligen Gebiete Elsass-Moselle leben heute nach Angaben des französischen Armeeministeriums noch 3.500.

Für Michel und seinen Vater hätte alles anders kommen können. Émile Michel ist 30, als er Mitte November 1944 eingezogen wird. Als Lokomotivführer war er lange wichtig für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur. Nur knappe zwei Wochen später, am 23. November 1944, wird Straßburg von den Nationalsozialisten befreit.

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