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Ein Fall aus dem Enzkreis

Emotionaler Missbrauch: „Er hat mich abhängig gemacht und dann die Droge reduziert“

Zuerst eroberte er sie leidenschaftlich, dann manipulierte er sie und später ließ er sie fallen wie eine heiße Kartoffel. Experten nennen dies in extremen Fällen "emotionalen oder narzisstischen Missbrauch". Das ist die Geschichte von Andrea und Ingo*.

Emotionaler Missbrauch kommt nicht nur bei Paaren, sondern zum Beispiel auch in Familien zwischen Eltern und Kindern vor.
Emotionaler Missbrauch kommt nicht nur bei Paaren, sondern zum Beispiel auch in Familien zwischen Eltern und Kindern vor. Foto: Imago

Andrea schüttelt verständnislos den Kopf. „Dass ich an so einen Menschen geraten bin“, sagt sie und kann es immer noch nicht so richtig glauben. Wenn sie an die Beziehung mit Ingo zurückdenkt, fühle sie sich wie mit „Honig im Kopf“.

Andrea, beruflich erfolgreiche Betriebswirtin, über 50 Jahre alt, kommt aus dem Enzkreis. Die Partnerschaft mit Ingo hat sie krank gemacht. Aber jetzt möchte sie darüber sprechen, auch, um anderen Betroffenen die Augen zu öffnen.

Verdeckter narzisstischer Missbrauch

Andrea ist ein klassisches Beispiel von emotionalem oder verdecktem narzisstischem Missbrauch – so ordnet Lucia Völlinger die Geschichte ein. Völlinger führt eine Praxis für Psychotherapie und Coaching in Malsch. Warum es verdeckter Missbrauch heißt? Weil der Täter täuscht und manipuliert und das so subtil, dass das Opfer es nur sehr schwer durchschauen kann. „Dem Umfeld fällt es vermutlich eher auf, das Opfer selbst ist in diesen Beziehungen meistens blind,“ beschreibt es Völlinger. Ingo sei ein klassischer Narzisst. Und Andrea war sein Opfer.

Lucia Völlinger hat eine Praxis für Psychotherapie (HPG) & Coaching in Malsch.
Lucia Völlinger hat eine Praxis für Psychotherapie (HPG) & Coaching in Malsch. Foto: Oliver Hurst

Wie die Beziehung begann

Doch der Reihe nach. Andrea ist geschieden. 30 Jahre hatte sie an der Seite ihres Mannes gelebt. Danach schaltet sie eine Kontaktanzeige in der Zeitung, weil sie nicht mehr alleine sein will. Ihre Ehe war bis dahin ihre einzige Partnerschaft gewesen. Kinder hat sie nicht. Rund 200 Zuschriften erreichen Andrea – darunter auch die von Ingo. Er ist älter als sie, kommt aus dem Landkreis Emmendingen. Auch er war verheiratet und ist geschieden.

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Erstes Treffen im Museum

Beide treffen sich zum ersten Mal in einem Museum, ungefähr in der Mitte ihrer beiden Wohnorte. Nach dem ersten Treffen will Andrea den über 60-Jährigen zunächst nicht wiedersehen. „Ich konnte ihn nicht riechen“, sagt sie. Ingo bleibt hartnäckig, meldet sich immer wieder. Nach dem zweiten Treffen verliebt sich Andrea. Seine „lustige und lebensfrohe Art“ begeistert sie dann doch.

Was sie an ihm fesselte

Anfangs ist er sehr zärtlich und aufmerksam. Er schreibt ihr schon morgens Nachrichten, er ruft mittags bei der Arbeit und abends bei ihr zu Hause an. Doch schon nach einiger Zeit meldet er sich immer seltener. „Wie eine Drogenabhängige hat er mich abhängig gemacht und dann die Droge langsam reduziert“, erzählt Andrea.

Lucia Völlinger kennt solche Fälle: „In der ersten Phase wird der neue Partner mit Liebesbeweisen überschüttet.“ Love-Bombing nennen das Experten. Nachrichten, Blumen, ständige Beteuerungen der Liebe. Narzissten, sagt Völlinger, gehen am Anfang einer Beziehung immer aufs Ganze. „Er gibt alles, um das Opfer von sich abhängig zu machen.“

Ingo war sexsüchtig

Zum Problem wird rasch Ingos Sucht. „Er war sexsüchtig“, sagt Andrea. Er wollte oft – und von Zärtlichkeit war bald immer weniger zu spüren. Lieber hart und schnell. Sie tat so, als gefiele ihr das. Höhepunkte spielte sie meist vor. Ingo habe immer wieder den Kick gesucht, erzählt Andrea. Beim Radfahren, beim Autofahren oder im Freizeitpark. Beide unternehmen viel zusammen. Er arbeitet als Ingenieur, klaut aber auf Feldern Erdbeeren oder Blumen. Das Verbotene reizt ihn.

Nach dem Kennenlernen ist sich Andrea schnell sicher, dass sie zusammenbleiben würden. Die beiden leben in getrennten Wohnungen – er im Landkreis Emmendingen, sie im Enzkreis. Sie sehen sich vor allem an den Wochenenden oder bei Kurzurlauben. Ingo stellt sie seiner Stieftochter vor und versichert ihr: „Ich bin froh, dass wir ein Paar sind.“ Ansonsten spart er allerdings mit Komplimenten. Immer öfter verunsichert er seine Partnerin auch. Wie zum Beispiel an diesem Wochenende, einem der letzten vor der Trennung.

Ingo sucht im Badezimmer einen Schwamm und findet ihn nicht. Er fragt Andrea, wo er sei, so, als habe sie ihn genommen. „Er sagte es in einem Ton, der aussagen sollte, ich hätte den Schwamm gestohlen“, erinnert sich Andrea. Für Expertin Völlinger sind das typische Merkmale. Der Partner lasse bewusst Dinge verschwinden, bis der Betroffene daran verzweifle.

"Gaslighting"

Bei diesem sogenannten „Gaslighting“ handelt es sich um eine Form der emotionalen Manipulation, eine Art Gehirnwäsche, so die Therapeutin. „Das Opfer wird regelrecht konditioniert und durch gezielte Äußerungen und Handlungen dazu gebracht, an sich selbst zu zweifeln und zunehmend sein Selbstbewusstsein oder sogar seine Identität zu verlieren.“ Auch das Bloßstellen in der Öffentlichkeit, das Lustigmachen über den Partner sei bei Narzissten immer wieder zu entdecken.

Einmal kauft sie ihm ein Waffeleisen, weil er Waffeln so gerne isst. „Was hast du denn da für einen Scheiß gekauft“, fährt er sie an. „Du musst meine Wohnung nicht einrichten.“ Auch das Blumenklauen sei durchaus typisch, berichtet Völlinger. „Dieses rebellische Verhalten kann bei vielen Narzissten beobachtet werden.“ Der Narzisst sehe immer nur sich, sagt die Psychotherapeutin. Sich selbst könnten Narzissten nicht lieben. „In ihnen herrscht eine innere Leere. Ihren Selbstwert beziehen sie durch die Personen im Umfeld.“ Der Partner solle ihn ständig bewundern, sonst wird er mit Psycho-Spielen bestraft. Einer wie Ingo sauge das Opfer regelrecht aus.

Schon zu Beginn habe Ingo viel gelogen, erzählt Andrea. Als die beiden an einem Wochenende bei ihr sind, klingelt am Sonntagmittag sein Handy. Ingo geht nicht ran. Dann kommt eine Nachricht. Andrea fragt nicht weiter nach. Später behauptet er, es sei ein Arbeitskollege gewesen. Doch der Anruf kommt auf sein Privathandy, nicht auf das Geschäftshandy. Andrea kommt das merkwürdig vor, aber sie sagt nichts.

Trennung im März 2019

Die Trennung verläuft dann emotionslos. Es war im März diesen Jahres. Er liegt hinter ihr im Bett und sagt ihr gegen den Hinterkopf, dass jetzt Schluss sei. Den Anfang wie das Ende der Beziehung erklärt er mit seiner ehemaligen Partnerin, die gestorben sei. Für Völlinger ist auch das alles andere als ein Einzelfall.

Die Opfergeschichte, etwa der Tod der „Seelen-Partnerin“, sei ein bekanntes Muster. Das können herzzerreißende Geschichten aus der Kindheit oder aus gescheiterten Beziehungen sein. „Das weckt im neuen Partner den Wunsch, ihn aus seiner Traurigkeit herauszuholen und ihm jetzt endlich ein besseres Leben zu geben“, erklärt Völlinger. Der Narzisst missbrauche schamlos die Empathie des neuen Partners.

Eine Welt, die zusammenbrach

Ingo sagt beim Schlussmachen, dass er mit seiner ehemaligen Partnerin glücklich gewesen sei – mit Andrea hingegen nur „zufrieden“. „Für mich brach eine Welt zusammen“, blickt Andrea zurück. Sie überkommt damals ein Gefühl, als sei sie auf den Müll geworfen worden. Sie fühlt sich benutzt. Es folgen Schmerzen am ganzen Körper ohne erkennbare Ursache. Auch das kennt Völlinger, der Körper reagiere auf psychosomatischen Stress. „Die Seele drückt ihr Leid in einer Erkrankung aus“, sagt die Expertin.

Gedanken an Suizid

Als Ingo seine Sachen holt, sieht er, wie schlecht es Andrea geht. Kurz nach der Trennung überlegt sie sogar, sich umzubringen. Andreas Ex-Mann steht ihr in der schweren Zeit bei. Sie denkt noch oft daran zurück, an Ingo und an so vieles, das ihr hätte auffallen müssen. Dass sich seine Freunde untereinander nicht kannten, etwa. Oder die Sache mit den anderen Frauen. Einmal findet sie sogar eine Notiz mit einer Internetadresse zu Sexkontakten. Als sie ihn darauf anspricht, sagte er, die Notiz gehöre einem Freund. Sie glaubt ihm. Aber es kostet Kraft. Nach jedem Wochenende sei sie völlig kaputt gewesen, erinnert sich Andrea, weil er ihr jedes Mal viel Energie geraubt hätte.

Andrea möchte über ihre Geschichte sprechen, damit anderen Frauen die Augen geöffnet werden.
Andrea möchte über ihre Geschichte sprechen, damit anderen Frauen die Augen geöffnet werden. Foto: pr

„Narzissten saugen ihre Opfer aus wie Vampire“

„Narzissten saugen ihre Opfer aus wie Vampire“, sagt Völlinger. „Ist bei dem Opfer nichts mehr zu holen, wird es fallen gelassen.“ Andrea hatte die Warnsignale durchaus gespürt. Während der anderthalb Jahre dauernden Beziehung sei sie zwei-, dreimal kurz davor gewesen, die Sache zu beenden. „Doch er hat mich jedes Mal beruhigt und mich als eifersüchtig oder misstrauisch hingestellt.“ Am Ende habe er sie immer wieder in die Beziehung zurückgezogen. „Hoovern“ , heißt das in Fachkreisen. Wie ein Staubsauger.

Ingo gelang es sogar, dass Andrea auf eine Freundin eifersüchtig wurde. Auch das sei ein Vorgehen, auf das man in solchen Fällen immer wieder stoße, so Völlinger. Der Mann greift die sozialen Kontakte der Frau an, intrigiert und stiftet Unruhe.

Heute fragt sich Andrea, wie ein Mensch nur so grausam sein kann. Und warum sie das alles nicht früher gemerkt hat. Eine Therapeutin und eine Selbsthilfegruppe halfen ihr, dass es ihr inzwischen wieder relativ gut geht.

Derzeit hat Andrea keinen Partner. Sie würde jedoch wieder eine Kontaktanzeige schalten. Sie möchte erneut einen Mann kennen lernen – vielleicht auch auf Flohmärkten oder im Fitnessstudio, wo sie gerne ihre Freizeit verbringt. „Wenn ich Menschen nur noch misstraue, hätte Ingo sein Ziel erreicht“, sagt sie. „Ich will Menschen wieder vertrauen und mein Wesen nicht verändern.“ Andrea will künftig mehr auf ihr Bauchgefühl hören. „Wenn sich etwas nicht gut anfühlt, dann ist es auch nicht gut.“ Das habe sie auch bei Ingo gespürt. Aber sie wollte es nicht wahrhaben. Weil der Honig ihr das Gehirn verklebte.

(Die Namen von Andrea und Ingo wurden von der Redaktion geändert.)
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