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Versorgung schrumpft, Verzweiflung wächst

„Ich mache erst zu, wenn ich jemanden finde“: Karlsruher Hausarzt sucht seit zwei Jahren einen Nachfolger

In Baden-Württemberg verschlechtert sich die ambulante Versorgungslage in atemberaubendem Tempo. Vor allem Hausärzte fehlen. Manche Patienten brechen in Tränen aus, wenn sie einen neuen Arzt gefunden haben.

Stethoskope hängen im Behandlungszimmer einer Hausarztpraxis über einer Trennwand.
Für Hausärzte ist es schwierig, einen Nachfolger zu finden. „Die Bürokratie ist ein Monster“, sagt ein Hausarzt aus der Region Karlsruhe. Foto: Sebastian Kahnert/dpa/Symbolfoto

Nicht alle haben so viel Glück wie die Patienten von Brigitte und Wolfgang Stunder. Die beiden Mediziner, 71 und bald 70 Jahre alt, suchten fünf Jahre lang nach einem Nachfolger für ihre Hausarzt-Praxis in Zell am Hamersbach (Ortenaukreis).

Dann bot sich die Chance, die Praxis in ein neu gegründetes Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) einzugliedern. Träger: Das gemeinwohlorientierte Genossenschaftsprojekt rgv Kinzigtal, das von ihnen und anderen Hausärzten mit initiiert wurde.

Die beiden Mediziner Wolfgang und Brigitte Stunder schauen in ihrer Praxis in die Kamera des Fotografen.
Wolfgang und Brigitte Stunder haben viel Bürokratie von der Backe. Foto: Silas Stein/dpa

Seither arbeiten die beiden in ihrer Praxis weiter – nicht mehr selbstständig, sondern als Angestellte. Viel Bürokratie haben sie damit von der Backe und vor allem eine Last von der Seele: „Wir hätten es nicht über das Herz gebracht, nach fast 40 Jahren als niedergelassene Ärzte einfach den Schlüssel umzudrehen und unsere Patienten im Stich zu lassen“, sagt Brigitte Stunder.

Ärztemangel in Baden-Württemberg spitzt sich zu

Denn der Ärztemangel spitzt sich dramatisch zu, auch in Baden-Württemberg. Gemeinden suchen oft händeringend nach einem Arzt, der sich in ihrem Ort niederlassen will. Hausärzte suchen ebenso händeringend Nachfolger für ihre Praxen.

Laut dem Versorgungsbericht der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) sinkt die Zahl der Hausärzte stetig auf nunmehr rund 7.000.

Fast 930 Hausarztsitze sind aktuell laut KVBW inzwischen unbesetzt – auch in attraktiveren, städtischen Gegenden, wie Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg betonen. Im Jahr 2019 waren es noch gut 600. Flächendeckend fehle inzwischen der Nachwuchs. „Es ist eine sehr beunruhigende Entwicklung.“

Immer weniger Mediziner wollen eine eigene Praxis führen

Immer weniger Medizinerinnen und Medizinerinnen wollen eine eigene Praxis führen. Wegen der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf arbeiten sie stattdessen lieber als angestellte Ärzte – etwa in Medizinischen Versorgungszentren, die es aber längst nicht überall gibt. Ihre Zahl steigt Jahr für Jahr und liegt inzwischen bei rund 336 (Stand Januar 2023).

Die Gründe für den Hausarztmangel seien vielfältig und seit Jahren bekannt: Viele Ärzte scheuten die mit der Selbstständigkeit verbundenen Risiken und bevorzugten daher Angestelltenverhältnisse.

Außerdem legten sie inzwischen großen Wert auf Teilzeitmodelle. Gibt ein Hausarzt seine Praxis etwa aus Altersgründen auf, seien damit rechnerisch zwei Ärzte notwendig, um ihn zu ersetzen. Im Medizinstudium werde das Thema der hausärztlichen Versorgung leider sehr stiefmütterlich behandelt, sagt der Hausärzteverband Baden-Württemberg.

Die Bürokratie ist ein Monster.
Hausarzt aus der Region Karlsruhe

Ebenfalls ein Problem: Sage und schreibe 37 Prozent der gut 7.000 Hausärzte in Baden-Württemberg sind inzwischen über 60 Jahre alt und werden in absehbarer Zeit aufhören. Unter ihnen sind 1.400 Mediziner, die bereits über das Rentenalter von 65 Jahren hinaus arbeiten. Ohne sie wäre das System noch mehr aufgeschmissen.

Nachfolger zu finden, ist schwer. „Die Bürokratie ist ein Monster“, sagt ein Hausarzt aus der Region Karlsruhe. Das wollten sich viele nicht ans Bein binden. Auch seien die Vergütungen wie etwa für Hausbesuche in Höhe von 22 Euro verglichen mit dem Zeitaufwand einfach lachhaft. Ein Orthopäde, der innerhalb von ein paar Minuten eine Hyaluronspritze ins Knie setze, können ein vielfaches verlangen. „Da stimmt was im System nicht mehr.“

Allgemeinmediziner aus Karlsruhe-Grünwettersbach sucht Nachfolger

Ein weiterer Allgemeinmediziner aus Karlsruhe, der seine Praxis im Karlsruher Ortsteil Grünwettersbach nach 18 Jahren schließt und nach Norddeutschland zieht, sucht seit Pfingsten nach einem Nachfolger. Nur einen Interessenten habe es gegeben – „diesem war offenbar das Risiko zu hoch“, vermutet er unter anderem.

Bis zum 30. September behandelt er seine Schützlinge noch. Spätestens dann müssen sie sich nach einem anderen Arzt umsehen. Otmar John, ebenfalls Hausarzt in Karlsruhe sucht seit zwei Jahren vergeblich. Er ist 70 Jahre alt – und will seine Patienten ebensowenig im Stich lassen, wie es die Stunders wollten. „Ich mache erst zu, wenn ich jemanden finde, der meine Praxis übernimmt“, sagt er.

Denn groß ist die Not bei Patienten, wenn ihr Hausarzt ohne Nachfolger dicht macht. Sie begeben sich auf die Suche nach einem neuen Hausarzt – oftmals vergeblich. Viele Praxen haben Aufnahmestopp, weil sie schlicht keine Kapazität haben.

Momentan liege er mit der Zahl seiner Patienten 20 Prozent über seinen eigentlichen Behandlungskapazitäten, sagt der Arzt aus der Region Karlsruhe.

Auch seine Praxis hat längst einen Aufnahmestopp verhängt, Ausnahmen macht der Mediziner aber immer wieder. Vor allem bei Angehörigen von Patienten oder Freunden. Die Dankbarkeit sei riesig. „Eine Frau hat kürzlich geweint – nur weil wir sie als Patientin aufgenommen haben.“

Dämpfer für die Telemedizin

Abhilfe wird es nicht von heute auf morgen geben: So gab es kürzlich in Sachen Telemedizin einen Dämpfer. Die KVBW hatte für das vergangene Jahr von einem Rückgang um acht Prozent berichtet und eine ähnliche Entwicklung auch für 2023 vorhergesagt. Es werde aber darauf ankommen, digitale Angebote weiter voranzutreiben, sagte das Sozialministerium. Die Gesundheitsversorgung stehe generell vor enormen Umbrüchen.

In der Praxis des Arztpaares Stunder ist jetzt erst mal alles wie immer. Die beiden könnten längst in Rente sein, lieben aber ihren Beruf und haben jeweils eine 40-Stunden-Woche. Irgendwann wollen sie ihre Arbeitszeit reduzieren.

Einen Teil der Praxis, die Mitte 2024 in ein neues Ärztehaus zieht, will ein Arzt übernehmen, der derzeit noch seinen Facharzt macht. Um die Praxis auch künftig voll betreiben zu können, braucht es aber mehr als einen Nachfolger. Die Suche geht weiter.

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