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„Wir brauchen Alternativen”

Karlsruher KIT-Experte erwartet erhebliche Auswirkungen bei Lieferstopp von russischem Gas

Die Abhängigkeit der Industrie und der Privathaushalte von russischem Erdgas ist hoch. Der Karlsruher KIT-Experte Thomas Kolb erwartet erhebliche Auswirkungen bei einem Lieferstopp.

Über den Import von Energie aus Russland wird in Deutschland kontrovers diskutiert.
Große Abhängigkeit von russischem Erdgas:KIT-Experte Thomas Kolb fordert,über Alternativen nachzudenken. Foto: Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dpa

Deutschland hängt am Tropf russischer Energielieferungen. Experte Thomas Kolb, Professor für Verfahrenstechnik Chemischer Energieträger am Engler-Bunte-Institut des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), beleuchtet in einem Interview die Folgen der Abhängigkeit und Alternativen zum Erdgas.

Unser Redaktionsmitglied Erika Becker zeigt hier aktualisierte Auszüge. Das Interview ist zunächst bei „Die Debatte“ erschienen, einem gemeinsamen Projekt von Wissenschaft im Dialog (WiD) und der TU Braunschweig zu aktuellen kontroversen Themen.

Prof. Dr.-Ing. Thomas Kolb 

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Engler-Bunte-Institut, Bereich I, Chemische Energieträger - Brennstofftechnologie

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Industrie ist dringend auf Erdgas angewiesen: KIT-Experte Thomas Kolb fordert daher, dann Blick auf Alternativen wie Flüssiggas oder Biogas zu richten. Foto: Nicole Brinnel/KIT

Was würde es für die Energieversorgung in Deutschland bedeuten, wenn Deutschland kein Erdgas und Erdöl mehr aus Russland importieren würde?
Kolb

Etwa 55 Prozent des Erdgases und etwa 42 Prozent des Erdöls werden aus Russland importiert. Wenn man sich die Bedarfssituation der Primärenergie in Deutschland anschaut, bedeutet das, dass mit einem Lieferstopp etwa ein Viertel unserer Primärenergie von einem Tag auf den anderen nicht mehr verfügbar wäre. Daher ist es schwer vorstellbar, dass man das kurzfristig kompensieren könnte, und die zu erwartenden Auswirkungen für Privathaushalte und die Industrie wären erheblich. Bis zum Herbst halte ich das durchaus für handhabbar, aber die Situation für den Winter bewerte ich als kritisch. Da brauchen wir Alternativen.

Wie steht es um die aktuellen Erdgasreserven in Deutschland?
Kolb

Wir haben große Gasspeicher, die in der Lage sind, Erdgas für ein Viertel des Jahresbedarfs zu speichern. Typischerweise sind die Speicher im Sommer voll und werden dann über die Winterzeit entleert. Mit Ende des Winters sind die Gasspeicher aktuell nur zu 27 Prozent gefüllt – das entspricht mengenmäßig also etwa dem durchschnittlichen Erdgasverbrauch eines Monats. Allerdings ist der Erdgasverbrauch im Winter etwa dreimal so hoch wie im Sommer, da im Sommer deutlich weniger geheizt wird, so dass für die Versorgung der Privathaushalte in den kommenden Monaten keine unmittelbaren Engpässe zu erwarten wären. Allerdings müssten die Speicher bis zum Herbst gefüllt werden und dann müssten auch ausreichende Importe aus anderen Quellen für den Winter verfügbar sein.

Was wären die Auswirkungen eines Lieferstopps für Verbraucherinnen und Verbraucher?
Kolb

Die Energie- und Kraftstoffpreise würden weiter ansteigen, wenn ein Lieferstopp kommt. Wir erleben ja schon jetzt einen gravierenden Preisanstieg, ohne dass aktuell ein Lieferstopp für russische Energieimporte besteht. Und mit Blick auf die Alternativen wissen wir, dass durch knappe Ressourcen der Preis deutlich nach oben getrieben werden würde. Mit Blick auf den Herbst und den Winter lässt sich das gar nicht seriös einschätzen, wie teuer das Heizen für jeden einzelnen wäre. Wir haben die Situation, dass beim Erdgas die Versorgung der Bevölkerung Vorrang vor der Industrie hat. Wenn wir nun mit dem Szenario eines Lieferstopps russischer Energie in den Winter kommen und wir ein deutliches Defizit an Erdgas hätten, müsste es eine Entscheidung zwischen weniger Erdgas für die Heizung oder die industrielle Produktion geben.

Was wäre die naheliegendste Alternative zum russischen Erdgas?
Kolb

Erdgas wird nach Deutschland über Pipelines geliefert und wir sind daher abhängig von der Transportinfrastruktur. Verstärkte Lieferungen von den europäischen Quellen müssen geprüft werden. Die naheliegende Alternative dazu ist verflüssigtes Erdgas, LNG (Liquified Natural Gas). Davon ließe sich eine gewisse Menge auf dem Weltmarkt dazukaufen, aber dafür braucht es die entsprechende Infrastruktur. Die Terminals zur Entladung und Einspeisung in die Pipelines sind in Deutschland noch überhaupt nicht vorhanden und sollen erst gebaut werden. Daher müsste man auf andere Terminals in Europa mit Pipelineverbindung nach Deutschland zurückgreifen. Die Terminals in den Niederlanden sind allerdings zu etwa 90 Prozent ausgelastet, so dass sich hierüber kaum große Mengen abwickeln ließen. Aus Frankreich und Italien besteht ebenfalls ein Pipeline-Netzwerk nach Deutschland und dort sind die Terminals aktuell nur zu etwa 50 Prozent ausgelastet.

Wie stark ist die deutsche Industrie abhängig von Erdgas?
Kolb

Insgesamt geht etwa ein Drittel des gesamten Erdgasverbrauchs in Deutschland in die Industrie. Den größten Bedarf haben die chemischen Industrie, die Metallindustrie und die Mineralölindustrie. Die Industrie hat zwei unterschiedliche Nutzungspfade für Erdgas: Die energetische Nutzung zur Erzeugung von Prozesswärme durch Verbrennung und die stoffliche Nutzung für Prozesse insbesondere in der chemischen Industrie. Die energetische Nutzung lässt sich mit großem Investitionsaufwand mittel- bis langfristig durch erneuerbare Energien ersetzen, bei der stofflichen Nutzung ist das nur begrenzt durch den Einsatz von Biomasse und Recyclingströmen möglich. Technisch gibt es kurzfristig – und hier spreche ich über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg – für den Ersatz von Erdgas in der Industrie keine Alternativen. Ohne die Zufuhr der bisherigen Menge an Erdgas müsste eine Vielzahl an Industrieprozessen gedrosselt werden.

Eine Sofortmaßnahme wäre der Ersatz von Gas durch Kohle im Stromsektor. Wäre das überhaupt möglich?
Kolb

Etwa zwölf Prozent des gesamten Erdgasbedarfs wird für die Stromerzeugung eingesetzt – daher halte ich den Ansatz grundsätzlich für richtig. Aber dafür muss man Kohle auch in ausreichenden Mengen beschaffen und rund 50 Prozent der Steinkohle stammt ebenfalls aus Russland. Dazu kommt die Schwierigkeit, dass ein Kraftwerk stets für eine ganz besondere Kohlespezifikation gebaut ist: Man kann also nicht ohne weiteres Kohle aus Russland durch Kohle aus einem anderen Land ersetzen, weil sich die Kohle zu stark voneinander unterscheidet – das ist ein ganz praktisches Problem. Die Braunkohlekraftwerke werden mit heimischer Braunkohle befeuert, sie können ohne diese Einschränkung mehr Strom erzeugen.

Was könnte die Energiesicherheit in Deutschland noch erhöhen?
Kolb

Ein Punkt, der in der gesamten Diskussion kaum Beachtung findet, ist das Thema Biogas. Wir nutzen Biogas in Deutschland überwiegend, um daraus Strom und Wärme zu machen. Wir könnten aber rund zehn Prozent des aktuellen Erdgasbedarfs durch Biogas ersetzen, wenn man die Anlagen entsprechend anpassen würde. Gleichzeitig werden die Anlagen reihum stillgelegt, weil sie sich nicht mehr wirtschaftlich betreiben lassen. Eine stärkere Nutzung von Biogas als Erdgassubstitut (SNG, Substitute Natural Gas) müsste aber politisch gewollt sein und bräuchte ebenfalls eine gewisse Zeit zur Umsetzung, aber in der Gesamtbetrachtung sollten wir das meiner Meinung nach nicht außer Acht lassen.

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