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Eisenbahn-Geschichte

Warum der „ICE Bruchsal“ in den USA für Begeisterung sorgte

Mit großem Bahnhof sollte in den 1990er Jahren der deutsche Hochgeschwindigkeitszug etabliert werden. Was hat die Präsentation in Connecticut mit Bruchsal zu tun?

Seltene Aufnahme: Der heutige ICE Bruchsal in Connecticut (USA). Anstelle des Logos der Deutschen Bahn ist auf der Zugfront der Schriftzug der amerikanischen Eisenbahngesellschaft Amtrak aufgedruckt.
Seltene Aufnahme: Der heutige ICE Bruchsal im Jahr 1993 in Connecticut (USA). Anstelle des Logos der Deutschen Bahn ist auf der Zugfront der Schriftzug der amerikanischen Eisenbahngesellschaft Amtrak aufgedruckt. Foto: Amtrak/Dave Warner

In der Eingangshalle der Washington Union Station herrscht geschäftiges Treiben. Hier, im Hauptbahnhof der US-amerikanischen Hauptstadt Washington DC, erinnert alles an die Zeit, als die Lokomotiven noch „Iron Horses“ genannt wurden und rußspuckend den Aufbau der Vereinigten Staaten vorantrieben. Jetzt, am Mittag des 29. Juli 1993, laufen Reporter der Hauptstadt-Presse aufgeregt unter den hohen, marmorverzierten Decken der Bahnhofshalle auf und ab und positionieren die letzten Kameras.

Womöglich kündigt sich gleich vor historischer Kulisse ein neues Eisenbahnzeitalter an. Die Gelegenheit dafür wäre günstig: Unter dem US-Präsidenten Bill Clinton wollen die USA ihr Hochgeschwindigkeits-Zugnetz ausbauen. Doch den Amerikanern fehlt es an geeigneten Zügen – der Blick geht neidisch nach Deutschland.

Dort ist man mächtig stolz auf den „ICE 1“, der seit Anfang der 1990er Jahre die Großstädte der Bundesrepublik verbindet, getreu dem Namen „Intercity Express“. Entwickelt und gebaut werden die deutschen Züge von einem Konsortium unter der Führung der Großunternehmen Siemens und AEG. Beide Traditionsfirmen hoffen nun, auch in den USA zum Zug zu kommen.

17 Millionen Mark kostete die Präsentation

In den Chefetagen der deutschen Industrie-Riesen ist man sich der Sache sicher: Als Siemens-Manager Wolfram Martinsen im Washingtoner Bahnhof vor die Presse tritt, spart er nicht an Superlativen: Er glaube „fest an die Renaissance der Eisenbahn in den USA“, erklärt der Siemens-Chef. „Und deshalb sind die rund 17 Millionen D-Mark, die die ICE-Demonstration kostet, gut angelegtes Geld“, verkündet Martinsen, als der eigentliche Star des Tages bereits parat steht: Wenige Meter weiter wartet ein weißer Hochgeschwindigkeitszug „made in Germany“ auf seinen ersten Einsatz – auf Hochglanz poliert und dank des markanten roten Streifens unschwer als ICE zu erkennen.

In den Wochen zuvor hatte ein Team aus Bundesbahn, AEG und Siemens zu einer bislang einmaligen Operation angesetzt – Codename „ICE Train North America Tour“: Zwei Triebköpfe, vier Mittelwagen, ein Service- und ein Speisewagen wurden erst für die amerikanische Schiene umgebaut und dann über den Atlantik verschifft.

Die Kameras verfolgen jede Bewegung

Immer mit dabei: Die Kameras des mitgeschickten Pressestabs, der jeden Schritt des Unterfangens festhielt. Schließlich sollte der deutsche Superzug nicht nur die US-Eisenbahngesellschaft Amtrak, sondern obendrein auch die Fahrgäste in Amerika überzeugen, den deutschen Zugbauern den Zuschlag für die neuen, amerikanischen Hochgeschwindigkeitsbahnen zu erteilen.

In den USA wurde der Import schnell zum Publikumsliebling: „Die Wagen waren gut beleuchtet, hatten bequeme Sitze und eine hervorragende Ausstattung. Die großen Fenster boten einen hervorragenden Blick nach draußen, und ich konnte mir vorstellen, wie ich mit einer Geschwindigkeit von 170 Stundenkilometern die Welt vorbeiziehen sah“, schrieb der amerikanische Eisenbahn-Journalist Bob LeBras nach der ersten Präsentation des Zugs.

Vor allem die Bord-Restaurants stießen beim US-Publikum auf Gefallen: Bequem und gemütlich sei das Bistro auf Rädern – es habe „absolut keine Gemeinsamkeit mit dem Café-Wagen der US-Eisenbahngesellschaft Amtrak, der einem schäbigen Imbiss mit dem Charme und dem Geschmack einer Mikrowelle ähnelt“, meinte LeBras süffisant.

Der Amtrak-Café-Wagen ähnelt einem schäbigen Imbiss mit dem Charme einer Mikrowelle.
Bob LeBras
Eisenbahn-Kritiker, über das Amtrak-Bordrestaurant

Es folgten 62 Betriebstage, etwa 80.000 Kilometer entlang der Nordostküste der USA und rund 120.000 Beförderungen im Auftrag von Amtrak. Eine aus heutiger Sicht bemerkenswerte Randnotiz: Nach Angaben von Siemens kam es während des Einsatzes des ICE in den USA zu keiner einzigen Verspätung.

Von dieser Pünktlichkeit ist der Zug heute weit entfernt: Denn seit dem Ende der sechsmonatigen Tour durch die Vereinigten Staaten im Dezember 1993 rollt derselbe ICE weiterhin – nicht jedoch auf amerikanischen, sondern auf deutschen Gleisen im Auftrag der Deutschen Bahn. Heute verbindet der einst in Amerika gefeierte ICE mit der Triebzugnummer 184 Bahnhöfe in ganz Europa – und macht nebenbei immer ein bisschen Werbung für Bruchsal: Im Juli 2003 wurde der Zug auf den Namen der Barockstadt getauft. Das einst „heißeste Gefährt der Schiene“ trägt heute das blaue Bruchsaler Stadtwappen in die Welt.

Ansonsten ist es ruhig geworden um den einst vielleicht meistbestaunten ICE der Geschichte. Das dürfte auch am Misserfolg der Präsentationsfahrt liegen: Der deutsche Hochgeschwindigkeitszug war den Amerikanern schlicht zu teuer – er unterlag in der Ausschreibung gegen ein Modell aus französisch-kanadischer Produktion.

Nachgebaut wurde der ICE mit dem „Amtrak“-Schriftzug der amerikanischen Eisenbahngesellschaft dennoch, zumindest als Märklin-Modell. Die Weiten der Vereinigten Staaten erkundet er so auch weiterhin – und zwar im Miniatur-Wunderland in Hamburg im USA-Abschnitt.

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