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Rebell und Frauenheld

Mick Jagger: der Rock-’n’-Roll-Zampano wird 75

Bekannt ist er als Frontmann der Rolling Stones: Mick Jagger. 75 Jahre alt wird der Brite am 26. Juli. Zeit auf die verschieden Facetten einer langen Karriere voller Höhen und Tiefen zurückzuschauen.

Mich Jagger mit Händen in der Luft von unten in einem Stadion.
Der Roch’n’Roll-Zampano mit den Schmolllippen: Mick Jagger bei einem Auftritt in den ersten Junitagen. Foto: dpa

Erinnern Sie sich noch an das Jahr 1966? Da röhrte ein schmalbrüstiges Jüngelchen mit unverschämt sinnlichen Stoßstangenlippen „What a drag it is getting old“ ins Mikrofon und jagte jedem Ü25-Jährigen eine Heidenangst vorm Altern mit Verfall und Siechtum ein.

Wenige Jahre später – das hagere Bürschchen mit der großen Klappe hatte noch nicht mal das Jesusalter erreicht – ließ er seine Gefolgschaft wissen, er wäre lieber tot, als mit 40 noch „Satisfaction“ zu grölen.

Es war ja auch kaum vorstellbar, dass Mick Jagger, diese Rampensau, dieser ständig unter Strom stehende Bühnenkobold überhaupt vier Lebensjahrzehnte schafft – angesichts all der Alkohol- und Drogenexzesse, die Englands Boulevardpresse verzweifelt nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht rufen ließ.

Von der Dauerfehde mit dem zweiten Alphatier Keith Richards ganz abgesehen, die auf keine lange Halbwertzeit der härtesten und lautesten Rockband der Welt schließen ließ, zu der sie ihre PR-Maschinerie stilisierte.

Mick Jagger, der Glimmer Twin

Bekanntermaßen ist es anders gekommen: Während sich musikalische Weggefährten, die sich allzu sorglos dem Lebensmotto „live fast, die young“ verschrieben hatten, in den „Club der 27“ einreihten oder in den Drogenhimmel verabschiedeten, haben die Glimmer Twins Jagger/Richards den Rock-’n’-Roll-Wahnsinn überlebt.

Keith Richards ist schon optisch eine Mischung aus tolkienschem Orc und lebender Leiche; sein Kumpel Mick Jagger taugt ebenfalls nicht als Werbeträger für Anti-Falten-Cremes, doch vom Bühnenstaub bekommen die beiden Rock-Urgesteine nicht genug. Am 26. Juli wird der Zampano der Rolling Stones 75 Jahre alt.

Sein Kumpel, Dauer-Rivale, Widersacher, Lästermaul und Nörgler folgt am 18. Dezember – vorausgesetzt Keith, der alte Rabauke, macht um freistehende Palmen, heiße Schlitten und seinen favorisierten Bourbon Rebel Yell einen großen Bogen.

Mick Jagger, der Frauenheld

Wie muss man sich die Feier zum 75. Geburtstag im Hause Jagger vorstellen? Kommt die ganze liebe Familie zu Besuch? Seine Ex Bianca, mit der er wenige Stunden vor der Hochzeit noch wegen des Ehevertrages feilschte?

Ehefrau Nummer 2, das texanische Modell Jerry Hall, das diverse Gründe hätte, dem notorischen Schürzenjäger eine reinzusemmeln und stattdessen seine Großzügigkeit rühmt? Die acht Kinder und vier Enkel? Trällert Ezra gar das Geburtstagsständchen für ihren Uropa oder spielt sie lieber mit dessen jüngstem Spross, dem 18 Monate alten Deveraux Octavian?

Mick Jagger sei ein alter, geiler Lustmolch, wetterte Kumpel Keith über dessen Kraftzentrum im Unterleib. Als sei dies nicht schon genug Keile zwischen Bandmitgliedern, schob er in seiner Biografie „Life“ noch ein paar Beschreibungen über Micks Equipment nach: Das sei mickriger als viele glauben.

Immerhin: 4 000 Frauen – darunter Prinzessin Margaret, die Ikone der sexuellen Revolution Uschi Obermeier, die spätere Mrs. McCartney, Linda Eastman, sowie Carla Bruni – sollen dem Charme des tänzelnden Gockels erlegen sein, der auch vor den Herzensdamen seiner Bandkollegen nicht halt machte.

Mick Jagger, der Androgyne

Dabei wirkte das schmächtige Kerlchen mit dem lasziven Blick und den wie von Rubens gemalten wulstigen Lippen bei seinen ersten Auftritten geradezu schüchtern. Dass es der Sohn aus gutem Hause im Leben zu etwas bringen würde, hatte sich schon in der Schule angedeutet.

Dank guter Noten schafft es Mick auf die angesehene Londoner School of Economics and Political Science. Er liebäugelt damit, Buchhalter, Anwalt oder gar Politiker zu werden. Doch dann läuft dem eingefleischten Chuck Berry-Fan auf dem Bahnhof in Dartford ein alter Freund aus Kindergartentagen über den Weg, der die Begeisterung des Lehrersohnes für Rhythm & Blues, für Bo Didley und Muddy Waters teilt und der dem weißen England die Musik der Schwarzen Amerikas näherbringen will: Keith Richards.

Mick Jagger, der Bluesfan

Das Duo haust gemeinsam in einer Bruchbude im Londoner Vorort Fulham, holt den kreativen, reichlich exzentrischen und höchst unzuverlässigen Brian Jones an Bord und verpasst sich den albernen Bandnamen Little Boy Blue & the Blue Boys.

Mit von der Partie sind zunächst noch der spätere Pretty Things-Gitarrist Dick Taylor und Drummer Mick Avory, der zu den Kinks wechseln wird. Für sie kommen der stoische Schlagzeuger Charlie Watts und Bassist Bill Wyman. Der ist eigentlich viel zu alt für die musikalische Rasselbande, besitzt aber einen guten Verstärker.

Pianist Ian Stewart darf nur noch im Hintergrund Klavier spielen und fungiert als Edelroadie: Der junge Mann ist Manager Andrew Loog Oldham schlicht zu hässlich.

Mick Jagger, der Sänger und Komponist

Der Mastermind baut die Rolling Stones gezielt zu einem Gegenentwurf zu den Beatles auf: hier die braven Liverpooler mit ihren einheitlichen Pilzkopffrisuren und den adretten Anzügen, dort die schrillen, langhaarigen Teufels-Sympathisanten mit dem demonstrativen Fuck Of-Gehabe.

„Die Beatles wollen deine Hand halten, die Stones dein Haus anzünden, nachdem sie Frau und Tochter flachgelegt, die Schnapsvorräte geplündert und das Badezimmer nach Valium durchsucht haben“, lautet noch einer der freundlicheren Kommentare über Mick Jagger & Co, die privat ziemlich gut mit den Jungs vom Mersey können.

Oldhams Idee, Richards und Jagger zum Komponieren in einen Raum zu sperren, erweist sich als Glücksgriff: Zum einen sind die beiden Alphamännchen gezwungen, sich zusammen zu raufen.

Zum anderen holen die beiden Songschreiber, die sich anfangs hinter dem Pseudonym „Nanker/Phelge“ verstecken, das Bestmögliche aus ihren Talenten heraus. Keith ist kein flinkhändiger Gitarrengott, kein Ausnahmekünstler wie Jimi Hendrix oder Eric Clapton, sondern ein Überzeugungstäter, für den ein mit Kraft geschrubbtes Riff die wahre Seele eines guten Songs ausmacht.

Mick Jagger wiederum, dieser Gockel mit seinem aufreizend androgynen Gehabe, der seinen dürren Körper in grauslige Klamotten steckt und sich die Tanzschritte von Tina Turner abguckt, gilt nur im Kreis seiner Bewunderer als herausragender Sänger, der mal wie ein Lustmolch hechelt, mal wie ein Chorknabe säuselt.

Mick Jagger, der Rebell und Bürgerschreck

Verausgabung, Überschreitung, Destruktion werden zum Markenzeichen der frühen Stones, die nicht nur als lauteste Rockband der Welt gelten wollen, sondern auch Schauspieler ihrer selbst werden, um das Prinzip Jugend mit all seinen aufmüpfigen Facetten darzustellen.

Älter zu werden ist bei diesem Lifestyleprodukt nicht vorgesehen, weshalb sich schon früh kritische Stimmen regen. „Wenn sie wirklich Stilgefühl haben, sorgen sie dafür, dass sie vor ihrem dreißigsten Geburtstag bei einem Flugzeugabsturz umkommen“, schreibt Nik Cohn, der Pionier des Musikjournalismus, Mick Jagger 1970 ins Stammbuch. Da ist die Rampensau 27 Jahre alt.

Das Urgestein hat Cohn den Gefallen nicht getan. Stattdessen hat sich Jagger peu à peu vom Image des Provokateurs, Rebellen und Bürgerschrecks verabschiedet, das wirkliche Leben von der Legende abgekoppelt.

Der Bannerträger von Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll, der selbst im Rentenalter wie ein notgeiler Clown über die Bühne tänzelt und sich zum Zwecke ewig währender Satisfaktion auch mal auf einen ausblasbaren Riesenpenis schwingt – im stockkonservativen Texas verzichtete die Band auf die heiße Rodeo-auf-dem-Schniedel-Nummer –, ist jener „Man of wealth and taste“ geworden, den er in „Sympathie For The Devil“ so teuflisch gut heraufbeschwört.

Die berühmteste Schmolllippe der Welt, deren Vorlieben für Frauenklamotten, Wimperntusche und Lidstrich allerlei Spekulationen über ihre sexuelle Orientierung nährte, zieht sich heute zum Meditieren in ein buddhistisches Kloster zurück, hält sich fit mit Ballettstunden und Kräutertee, ergötzt sich an so sterbenslangweiligen Vergnügungen wie dem Cricketspiel.

Er lebt die diskrete Dekadenz des englischen Adels, dem er seit 2003 angehört. Der Ritterschlag der Queen für den einstigen „Street Fighting Man“ kommentierte Kumpel Keith in gewohnt bissiger Weise: Ein solcher Titel sei doch nur was für Kriecher oder Phil Collins.

Mick Jagger, der Geschäftsmann

Warum machen die Glimmer Twins überhaupt weiter? Nach all den verbalen Tiefschlägen unter die Gürtellinie? Nach langen Phasen von Eiszeit, in denen sich die beiden alten Haudegen mit mäßigem Erfolg um eine Solokarriere mühten? Die Antwort auf die Fragen ist denkbar einfach. Der Kontrollfreak Jagger und der Junkie Richards sind wie ein altes Ehepaar, das nicht mit, aber auch nicht ohne den anderen leben kann.

In fast sechs Jahrzehnten haben sie trotz aller Differenzen die Qualitäten des anderen wertschätzen gelernt, haben das eigene Ego dem kreativen und monetären Profit untergeordnet. Mehr noch: Ihren ewigen Bruderkrieg haben sie quasi ins Geschäftsmodell integriert, weil auch Bösartigkeiten den Mythos der dienstältesten Band nähren.

Zur Not stehen der gediegen als Country-Gentleman residierende Charlie Watts und der auch schon 71 Lenze zählende Jungspund Ron Wood als Puffer zwischen den beiden Rammböcken bereit.

Mick Jagger, die Legende

Ihr musikalisches Pulver hat die einstige Großmacht des Rock mit ihrem Album „Exile On Main Street“ verschossen. Selbst ihr letzter Hit liegt gefühlt länger zurück als Mick Jaggers Midlife-Crisis. Die Mission der gut geölten Band-Maschinerie besteht darin, das musikalische Werk der Stones zu verwalten – Hymnen an das Leben, die Liebe und an Luzifer, die mittlerweile Klassiker sind.

Mag auch jeder neue Titel der Rock-Dinosaurier wie ein Aufguss aus „Jumping Jack Flash“, „Brown Sugar“ oder „Satisfaction“ klingen – die Anziehungskraft der Stadionrocker funktioniert noch immer. Fast 600 Millionen US-Dollar spielten die gut gelaunten alten Säcke bei ihrer Bigger Bang-Welttournee vor einem Jahrzehnt ein.

Und auch die nachfolgenden Auftritte zogen die Massen an – es könnte ja der letzte von Jagger & Co sein. So gesehen müsste am 75. Wiegenfest von Ur-Opi Mick doch mehr drin sein als ein magenfreundliches Tässchen Kräutertee. Wir wünschen dem Schlossbesitzer, Rosenzüchter und Hobbyimker jedenfalls alles Gute.

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