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Denk mal zurück

Eine Kleinkinderbewahranstalt für Karlsruhe - und wo bleibt die Moral?

Die Emotionen kochen hoch. Einige Damen und Herren der guten Gesellschaft wollen 1837 in Karlsruhe eine Kleinkinderbewahranstalt gründen. Wird das Laster jetzt belohnt?

Zöglinge der evangelischen Kleinkinderschule Durmersheim, die von einer Diakonisse betreut werden, im Jahr 1912.
Im 19. Jahrhundert entstehen Einrichtungen für Buben und Mädchen im Vorschulalter, deren Mütter „notgedrungen“ arbeiten gehen. Das Foto von 1912 zeigt die Zöglinge der evangelischen Kleinkinderschule Durmersheim, die von einer Diakonisse betreut werden. Foto: Landesarchiv BW Generallandesarchiv Karlsruhe 69 Baden, Sammlung 1995 F I Nr. 1643, Bild 1

Eine Kleinkinderbewahranstalt? Klingt schrecklich. Irgendwie nach Aufbewahrung. Aber die Damen und Herren, die 1837 in Karlsruhe die Gründung einer solchen, bisweilen auch Kleinkinderschule genannten Einrichtung anstreben, meinen es gut.

Sie wollen kleine Kinder von der Straße fernhalten, vor Verwahrlosung „bewahren“. Denn natürlich ist die Kleinkinderbewahranstalt nicht für den wohlbehüteten Nachwuchs von Bürgerfamilien gedacht. Sondern für zwei- bis sechsjährige Buben und Mädchen, deren Eltern „notgedrungenen“ einer außerhäuslichen Beschäftigung“ nachgehen. Oder ihre Kleinen aus anderen Gründen vernachlässigen.

Jedenfalls geht es um zwei- bis sechsjährige Kinder, die sich weitgehend selbst überlassen sind. Ohne Aufsicht, ohne Pflege. Ohne Anleitung zu nützlichen Tätigkeiten, zu Reinlichkeit und Ordnung. Die Kinder der Armen. Die Sozialfälle von morgen.

Mannheim, Rastatt und Heidelberg sind vorgeprescht

Kleinkinderbewahranstalten sind eine Antwort auf die Nöte der Zeit. In Mannheim und Rastatt gibt es eine solche Anstalt seit 1834. Im Jahr darauf wird eine in Heidelberg gegründet. In Karlsruhe machen sich die „Frau Galeriedirektor Henriette Frommel“ und andere sozial und religiös engagierten Damen und Herren für eine solche Einrichtung stark.

Das Großherzoglich-badische Polizeiamt ist die für die Hauptstadt zuständige Armenbehörde. Da das Amt keine Einwände hat, startet das Komitee einen Spendenaufruf. Und bekommt sogleich heftigen Gegenwind. Wie fast überall, wo eine Kleinkinderbewahranstalt im Werden ist, kochen die Emotionen hoch.

Wofür der Kampf um die Existenz gut sein soll

Ein Gegner des Vorhabens verfasst einen ellenlangen Leserbrief an die Karlsruher Zeitung. Darin prophezeit er den Untergang des Familienglücks bei den Ärmsten. Denn die Kleinkinderbewahranstalt werde „Eltern daran gewöhnen, ihre Kinder als eine Last zu sehen, die um weniges Geld von Fremden ihnen abgenommen wird.“

Dabei sei es doch gerade „der Kampf um die Existenz“, die armen Kindern „innere Kraft“ schenke.

Die Früchte der Sünde erziehen?

Mit viel Pathos schwingt der empörte Karlsruher die moralische Keule. Denn in der Kleinkinderbewahranstalt werde man sich ja nicht nur um arme und verwahrloste Buben und Mädchen kümmern. Sondern, sondern auch um uneheliche Kinder. Um Früchte der Sünde. „Das heißt in der Tat fast Prämien auf das Laster setzen.“

Dabei sei die Gesetzgebung gegen Unzucht ohnehin viel zu milde, meckert der Leserbrief-Schreiber. Und die „Kirchenzucht“ zerfalle. „Die öffentliche Schande hat ihren Schrecken verloren.“ Was dem Leichtsinn am wirksamsten Einhalt tue, sei „die Furcht vor der Hilflosigkeit und dem Elend, dem Mutter und Kind entgegengehen.“ Diese Furcht aufrecht zu erhalten, sieht der Moralist offenbar als Gebot der Stunde.

Für die Kleinkinderbewahranstalt fließen Spenden

Nun setzt eine Leserbrief-Schlacht ein, in der sich Befürworter und Gegner der Kleinkinderbewahranstalt nichts schenken. Aber in Karlsruhe setzt sich die Auffassung durch, dass es keine gute Sache sei, ledige Kinder und ihre Mütter im Elend ersticken zu lassen.

Die Spenden fließen. Noch im selben Jahr wird in die Kleinkinderbewahranstalt eröffnet.

Zurück ins Elend...

Der Historiker Eugen Huhn widmet ihr 1843 in seinem Buch „Karlsruhe und seine Umgebungen“ einige Zeilen. Die Kleinkinderbewahranstalt erfreue sich sehr des Wohlwollens der Stadtbewohner, schreibt er. Huhn selbst sieht die „allenthalben“ entstehenden Kleinkinderschulen allerdings kritisch.

Denn, so meint er: Die „kleinen Geschöpfe“ hätten es gut in der Anstalt. Doch bald müssten sie zurück „ins elterliche Haus, wo Mangel, Elend und Familienzerwürfnisse herrschen. Wo sie täglich fluchen hören und die Laster kennen lernen.“ Und dann würde der „größte Teil der Kinder sich unglücklich fühlen bei der Erinnerung an das schöne Leben“ in der Bewahranstalt.

Es ist die seltsame Logik eines Mannes, der sich zu den „tiefer Blickenden“ zählt. Gut, dass seine tiefen Einsichten keine Schule gemacht haben.

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