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Interview

Karlsruher Professorin über Wohnformen: „Das Einfamilienhaus hat viele Kratzer bekommen“

Wohnkonzepte gibt es einige: Die einen wohnen im Einfamilienhaus, die anderen in einer Bauwagen-Siedlung. Doch wie sieht eigentlich die Zukunft des Wohnens aus? Wir haben mit einer Karlsruher Expertin zu dem Thema gesprochen.

Vogelperspektive einer großen Einfamilienhaussiedlung.
Sechsmillionenfach in Deutschland: Einfamilienhäuser sind das klassische Wohnmodell in Deutschland. Doch wegen steigender Kosten und den Auswirkungen des Klimawandels, werden sie allmählich durch alternative Wohnkonzepte ersetzt. Foto: Patrick Pleul/dpa

Das Einfamilienhaus, die Doppelhaushälfte oder die Mietwohnung: Das sind die Klassiker, die unsere Gesellschaft beim Thema Wohnen seit Jahrzehnten maßgeblich prägen.

Doch nicht für alle ist diese Form des Wohnens die beste Wahl: Es gibt ganz unterschiedliche Wohngemeinschaften, das Wohnen im Alter ist ebenfalls eine besondere Herausforderung oder aber alternative Modelle wie eine Bauwagen-Siedlungen. Immer mehr Menschen entscheiden sich bewusst für eine Form des Wohnens, die mit Traditionen bricht.

Welche Faktoren führen zu dieser Entscheidung? Und wie viel Platz braucht eine Person, um glücklich zu wohnen? Diese Fragen beantwortet Susanne Dürr, Architektin und Professorin für Städtebau und Gebäudelehre an der Hochschule Karlsruhe.

Porträt von Susanne Dürr, blonde Frau im orangefarbenen Pullover und lächelt in die Kamera.
Susanne Dürr ist Architektin und Professorin an der Hochschule Karlsruhe. Foto: Felix Kästle

Dürr forscht im Bereich „Wohnoptionen in der modernen Gesellschaft“. Die Fragen stellte Tina Kempka.

Wie hat sich unser gesellschaftliches Leben in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Dürr

Wenn wir zurückblicken, dann lebten die Menschen vor etwa 100 Jahren tendenziell weniger lange wie heute. In ihrem Leben gab es zwei einschneidende Veränderungen: die Hochzeit und den Tag der Pensionierung. Wenn wir die häufig normierten Lebensmodelle mit der jetzigen Zeit vergleichen, dann sind diese heute deutlich diverser.

Es gibt nicht mehr die klar definierten und für alle gültigen sozialkonformen Lebensrahmen, sondern beispielsweise eine breite Orientierungsphase nach der Kindheit, die Post-Adoleszenz.

Und was genau passiert in dieser Phase?
Dürr

In der verlängerten Übergangszeit zwischen Kindheit und Familienphase fallen Entscheidungen zu Ortswahl, beruflicher Orientierung oder persönlichen Bindungen individuell aus. Dadurch entstehen verschiedene Lebensformen, und dementsprechend auch unterschiedliche Lebensentwürfe, die räumliche Äquivalente brauchen.

Vor diesem Hintergrund entsteht der Bedarf, dass in allen Lebensformen mit hoher Mobilität spezifische Wohnformen existieren: WGs für junge Menschen, Bauwagen-Siedlungen und das Wohnen im Alter. Diverse Gesellschaften brauchen vielfältige Lebenswohnformen.

Bewegen wir uns somit weg von „klassischen“ Wohnformen wie dem Einfamilienhaus?
Dürr

Das Einfamilienhaus hat viele Kratzer bekommen und weist ökologische und soziale Grenzen auf. In Deutschland gibt es sechs Millionen davon. Für viele ist es aber nicht nur eine Wohnform, sondern gleichzeitig auch eine finanzielle Vorsorge.

Die Realität sieht aber anders aus: Die Grundstücke wurden mit den Jahrzehnten kleiner, der gewünschte Freiraum für Gestaltung hat sich reduziert. Die Preise für Grundstücke und die Baukosten sind ebenso wie die Zinssätze extrem gestiegen. Es ist auch nicht mehr abschätzbar, ob der Standort des Hauses Wert hält.

Währenddessen sind die Kinder weg, das Haus ist zu groß und die Energiekosten steigen. Um noch mal auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, die Zukunft des Wohnens baut weiterhin auf den Bestand der sechs Millionen Einfamilienhäuser, aber daneben sind grundsätzliche andere Bedürfnisse entstanden.

Welche Rolle spielen dabei Themen wie Klimawandel und Gesellschaft?
Dürr

Sie spielen eine zentrale Rolle. Wir wissen zum Beispiel, dass die Versiegelung des Bodens Konsequenzen hat. Dadurch sind die Grundwasserstände gesunken. Wir brauchen gesunde Wälder und Flächen für die Agrarwirtschaft. Wir brauchen den Platz, um dem Klimawandel entgegenzuwirken.

Verzichtet man bei diesen modernen Wohnformen nicht auch auf etwas?
Dürr

Diejenigen, die Sie gerade vor Augen haben, würden vielleicht gar nicht sagen, dass sie auf etwas verzichten, sondern sie würden eher sagen: Wir schaffen unsere Lebensformen und gestalten die selbst.

Sie haben eine andere Vorstellung vom Leben: mehr Nähe, mehr Nachhaltigkeit, die unser Leben bestimmt, und Aspekte des Teilens und Miteinanders. Daher kann man die Medaille von zwei Seiten betrachten. Die Seite des Verzichts spiegelt nicht das, was man als Mehrwert erhält.

Und wie ist das für Alleinstehende? Können die nicht auf den Luxus eines großen Hauses verzichten?
Dürr

Viele dieser Menschen, die alleine in einem Haus leben, tun das nicht freiwillig. Das sind meist die älteren Damen, die statistisch gesehen länger leben als ihre Partner und dann zurückgelassen wohnen. Außerdem haben wir nach wie vor eine steigende Zahl an Singlehaushalten.

Deshalb würde ich nicht sagen, dass der Luxus als erstes Motiv gilt, sondern der Hintergrund der Entscheidungen, die in einer anderen Lebensphase getroffen wurden. Und dann kommt noch hinzu, dass wir eine Gesellschaft der Dinge sind. Den Besitz nach Jahrzehnten zu reduzieren ist nicht einfach.

Wie viel „Wohnraum“ braucht der Mensch überhaupt, um sich wohl zu fühlen?
Dürr

Es gibt Statistiken dazu: 1970 betrug die Wohnfläche pro Kopf 23 Quadratmeter. Heute sind das etwa 48 Quadratmeter, nahezu eine Verdoppelung innerhalb von fast 50 Jahren. Die Themen, die wir vorhin angesprochen haben, Klimawandel, Ökologie und Ökonomie, machen uns klar, dass wir aber an der Grenze sind.

Dieses Wachstum kann nicht weitergehen. Sowohl in der Schweiz als auch im deutschen Raum, zum Beispiel in Konstanz, wird die Ziellinie von 35 Quadratmetern pro Person verfolgt. Man sagt, dass diese Grenze eine Balance zwischen der ökologischen Herausforderung und den sozialen Bedürfnissen hält.

Die 35 Quadratmeter gelten dann pro Person?
Dürr

Ja, sie gelten pro Person, beinhalten aber auch Gemeinschaftsräume, und zwar anteilig auf die Bewohnenden umgelegt. Wenn dort 70 Personen wohnen und jede gibt zwei Quadratmeter ab, entstehen daraus wiederum 140 Quadratmeter, die man zum Beispiel als gemeinsame Waschküche, Gemeinschaftsraum und Gästezimmer ansetzen könnte.

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