Skip to main content

Sturmkatastrophe vor 20 Jahren

Orkan Lothar und seine Folgen: "100 Jahre Wald sterben in 30 Minuten"

Am 26. Dezember 1999 verwüstete der Orkan Lothar weite Landstriche im Südwesten. Im Schwarzwald knickten ganze Wälder ein, als bestünden sie nur aus Streichhölzern. Wie erinnern sich die Menschen zwanzig Jahre nach dem Sturm an eine der größten Naturkatastrophen Baden-Württembergs?

Wenige Monate nach dem Orkan bietet sich vielerorts ein Bild der Verwüstung.
Bildserie_Lothar_2000©CharlyEbel Foto: Nationalpark Schwarzwald/Charly Ebel

Einem 100 Jahre alten stolzen Wald beim Sterben zuzusehen ist nichts, was ein Förster je erleben möchte – am allerwenigsten, wenn der komplette Kahlschlag keine 30 Minuten dauert. Doch als Max Reger an jenem Zweiten Weihnachtsfeiertag vom Balkon seines Freundes auf den Bühler Klotzberg blickt, sieht er genau das: „Es war eine apokalyptische Situation. Wie in Zeitlupe bricht ein ganzer Wald zusammen. Tausende Bäume knicken um wie Streichhölzer. Das war für mich surreal.“

None
Das Archivbild vom 04.05.2000 zeigt den durch Sturm "Lothar" fast völlig zerstörten Wald auf dem Mooskopf bei Gengenbach im Schwarzwald (Ortenaukreis). Am 26.12.2000 jährt sich die schlimmste Katastrophe der Forstwirtschaft in Baden-Württemberg. Eine ganze Generation von Waldbauern in den vom Orkan "Lothar" betroffenen Gebieten wird ohne Einkommen aus ihren Forsten leben müssen. dpa/lsw (zu dpa 0052) Wiederholung vom 18.12.2000 - Foto: dpa

Heute ist Reger Landesforstpräsident und für die gesamten Waldflächen des Landes verantwortlich. Doch jener Weihnachtstag vor 20 Jahren, als vor seinen Augen ein Wald starb, hat sein Leben geprägt.

Menschen werden in ihren Autos zerquetscht

Zunächst sieht es nach einem ganz normalen Wintersturm aus – das hatte der Wetterdienst auch angekündigt. Doch was an Weihnachten 1999 über den Schwarzwald fegt, entpuppt sich schnell als eine der größten Naturkatastrophen Baden-Württembergs. Der Orkan Lothar reißt im Land weit mehr als 30 Millionen Bäume um und verwandelt über 40 000 Hektar Wald in Brachland – das ist eine Fläche von rund 54 000 Fußballfeldern.

In den zwei Stunden, in denen der Sturm über Baden-Württemberg wütet, kommen 13 Menschen ums Leben. Eine Familie aus Ispringen stirbt auf der Moosalbstraße zwischen Fischweier und Moosbronn, als ein umstürzender Baum ihr Auto trifft. Auf der Autobahn bei Pforzheim sterben zwei Menschen, ein Mann aus Aalen und ein Mann aus Ettlingen, in ihren Autos zerquetscht von umstürzenden Bäumen. Schwer getroffen wird auch Frankreich, wo 88 Menschen sterben, und die Schweiz, wo 14 Todesopfer zu beklagen hat.

Am Vormittag jenes 26. Dezember forderte der Sturm sein erstes Opfer in Paris, am Nachmittag schon zog das Orkantief gen Osten über die Oder. In der Zeit dazwischen tobte der Wind vor allem in Baden. Auf dem Hohentwiel wurden Geschwindigkeiten von 272 Stundenkilometer gemessen. Die Wetterstation auf dem Feldberg meldete noch 212 Stundenkilometer, ehe sie zerbrach. Im Flachland blies es besonders heftig in Karlsruhe. Hier erreichte der Sturm eine Geschwindigkeit von 151 Kilometern pro Stunde.

Der Blick nach draußen ließ Schlimmes erahnen

Doch der Blutzoll war mit dem Abebben des Windes noch nicht abgegolten. Weil die Bäume ineinander verkeilt lagen, waren die Aufräumarbeiten auf den Straßen und im Wald lebensgefährlich. 25 Forstarbeiter starben, als sie mit ihren Kettensägen versuchten, die spannungsgeladenen Stämme zu zersägen. Über 450 verletzten sich schwer. Noch im April 2000 starb in Loffenau ein 36-jähriger Waldarbeiter, als er eine schräg liegende Eiche fällen wollte.

In den ersten Stunden und Tagen war längst nicht klar, wie groß das Ausmaß der Sturmschäden wirklich war. „Heute würde ein Förster seinen Sohn fragen, ob er nicht eine Drohne über den Wald fliegen lassen könnte“, sagt Heiner Pabst. Der pensionierte Forstamtsdirektor war damals Chef im Forstamt Neuenbürg.

Ein ungewöhnlich helles Pfeifen durch die Ritzen der Fenster hatte den Förster damals auf die ungewöhnliche Wetterlage aufmerksam gemacht. Ein Blick nach draußen ließ ihn ahnen, dass da Schlimmes passiert. „Doch wie schlimm es werden sollte, davon hatte ich keine Ahnung. Erst langsam wurde mir klar, dass das eine große Sache war.“

Von der Außenwelt abgeschnitten

Auch in Pabsts Revier fiel mehr Holz um, als man sonst in drei Jahren ernten würde. Und das Holz lag überall, mikadogleich über Waldwege, Land- und Bundesstraßen. Die Schwarzwaldhochstraße war eine knappe Woche lang nicht passierbar, Ortschaften tagelang von der Außenwelt abgeschnitten. Und die Waldarbeiter, die man dringend brauchte um aufzuräumen: „Die waren im Weihnachtsurlaub“, erinnert sich Pabst.

Auch deshalb, vor allem aber wegen der schieren Größe der Aufgabe zogen sich die Aufräumarbeiten lange hin. Erst Mitte Januar fuhr die Albtalbahn wieder bis Bad Herrenalb. Bis das Sturmholz letztlich abgeräumt war, waren 5.500 Waldarbeiter über 18 Monate beschäftigt. Und während sich reisende Dachdecker mit unseriösen Angeboten über geplagte Hausbesitzer her machten, entdeckte der Borkenkäfer das liegen gebliebene Totholz für sich.

Bereits damals machten Umweltschützer auf die Klimaerwärmung aufmerksam und warnten vor weiteren Wetterextremen. Klaus Töpfer, einst Umweltminister und 1999 Direktor der UNO-Umweltbehörde, sagte, Weihnachtsorkan Lothar vermittle eine Ahnung, „was uns noch blüht“.

Ein Bote des Klimawandels?

Eine Katastrophe war der Sturm für die Menschen, die schwer verletzt oder gar getötet wurden, und ihre Angehörigen. Schlimm und lange nachwirkend war er auch für die Forstwirtschaft und die Kassen der Kommunen. „Doch für den Wald war Lothar keine Katastrophe“, sagt Pabst. „Die Natur hilft sich selbst. Wir haben bei uns 20 Prozent der Flächen aufgeforstet. Den Rest holte sich der Wald von alleine zurück.“

Aber auch wenn der Wald wieder steht, gesünder und vielfältiger als zuvor, so versetzt das Wort Lothar bis heute jedem Försterherzen einen Stich. „Das war für viele von uns ein säkulares, für einige ein fast traumatisches Ereignis“, sagt Landesforstpräsident Reger. „Ich sah erwachsene Männer, völlig aufgelöst, auf ihr geknicktes Lebenswerk schauen.“

Ihm selbst habe der Weihnachtssturm von 1999 gezeigt, wie ausgeliefert und hilflos der Mensch den Naturgewalten sei. „Früher dachte ich immer, da passiert schon nichts Schlimmes. Heute gehe ich bei starkem Wind nicht mehr in den Wald. Wir denken oft, wir seien die Krone der Schöpfung. Doch Lothar hat mich gelehrt, wo unsere Grenzen sind. Wir können viel gestalten und bewegen. Aber es gibt eine Instanz, die über allem steht.“

nach oben Zurück zum Seitenanfang