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Helga Zwosta schreibt Buch

„Ich will nicht mehr schweigen“: Ehemalige Baden-Badenerin erzählt über ihr Kriegstrauma

Alpträume begleiten Helga Zwosta jahrelang. Irgendwann sucht sie bei einem Therapeuten Hilfe. Sie erkennt, dass sie in frühester Kindheit traumatisiert wurde. Damals geht der Zweite Weltkrieg gerade zu Ende. In ihrem ersten Buch erzählt sie davon.

Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg: Helga Zwosta erzählt in „Der stumme Schrei“ ihre Lebensgeschichte. Dafür begab sie sich monatelang auf Spurensuche.
Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg: Helga Zwosta erzählt in „Der stumme Schrei“ ihre Lebensgeschichte. Dafür begab sie sich monatelang auf Spurensuche. Foto: Martin Zwosta

Helga Zwosta hört laute Männerstimmen. Soldaten stehen vor dem Wohnhaus in Patschkau (Polen), sie wollen herein. Ihre Mutter läuft mit Nachbarn in den Hausflur – sie will die Polen aufhalten. Auf das Klingeln folgen laute Schläge. Dann brechen die Männer durch die Tür.

Diese Szene beschreibt Zwosta in ihrem Buch „Der stumme Schrei“. Sie schreibt von Plünderung und Vergewaltigung im Zweiten Weltkrieg.

Es sind Erinnerungen aus ihrer Kindheit, von denen sie als Erwachsene immer wieder träumt – und über die sie nicht mehr schweigen will.

Zwosta fühlt sich in Baden-Baden zu Hause

Über 40 Jahre lebt Zwosta in Baden-Baden, ihr Ehemann Jörg Zwosta ist der ehemalige Bürgermeister. Die pensionierte Lehrerin fühlt sich in der Kurstadt zu Hause. „Mich verbinden viele Erinnerungen mit Baden-Baden“, sagt sie.

Die Seniorin zieht mit ihrem Mann vor knapp drei Jahren nach Donaueschingen um. Sie will näher bei ihrem Sohn und dessen Familie leben. „Donaueschingen ist für mich noch keine Heimat“, sagt sie. Ihre anderen zwei Söhne leben in Berlin. Ein Großteil ihrer Freunde wohnt noch in Baden-Baden. Vor der Pandemie besucht Zwosta sie öfters mit dem Zug.

Schon früh interessiert sich Zwosta für Geschichte, deshalb studiert sie das Fach auf Lehramt. Dabei lernt sie das Handwerkszeug, das sie später für die Recherche ihrer Familiengeschichte braucht. Zum Beispiel untersucht sie alte Bilder. Außerdem studiert Zwosta Psychologie und Pädagogik.

Schüler erzählen von Demenzpatienten

„Baden-Baden hat mein Buch nicht beeinflusst“, sagt sie. Die Zeit in der Stadt bereitet sie aber darauf vor. Jahrelang unterrichtet sie an der Berufsfachschule für Altenpflege. Dabei berichten ihr Schüler von Erlebnissen mit Demenzpatienten. Einige Patienten schreien immer wieder auf, sobald sie die jungen Pfleger im Intimbereich waschen wollen.

Zwosta schätzt, dass in den Senioren möglicherweise unbewusste Erinnerungen hochkochen – die haben sie verdrängt. „Traumata äußern sich auch bei dementen Menschen“, sagt sie.

Durch die Gespräche mit ihren Schülern versteht sie, dass schlechte Erfahrungen nicht ignoriert werden können. Sie schlummern im Unterbewusstsein und können jederzeit hervorbrechen.

Seniorin recherchiert über ihre Kindheit

Dieses Wissen überträgt sie später auf ihr eigenes Kriegstrauma. Ein Trauma ist eine psychische Ausnahmesituation, die zum Beispiel durch Gewalt ausgelöst wird. Ihre Traumatisierung erkennt Zwosta, als sie bei einem Therapeuten Hilfe sucht.

„Ich habe gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt. Ich spürte eine Dunkelheit in mir“, sagt sie. Immer wieder träumt Zwosta von Männern, die sie bedrohen oder sogar vergewaltigen. Sie ahnt, dass das nicht bloß Träume sind.

Im Laufe der Therapie kehren ihre Erinnerungen zurück. Polnische Soldaten plündern in den 40er Jahren das Haus, in dem ihre Familie wohnt. Daraufhin flüchtet ihre Mutter mit den Kindern in den Westen.

Wir sprechen viel über den Zweiten Weltkrieg, aber persönliche Erlebnisse kommen dabei fast nie zur Sprache.
Helga Zwosta, Autorin

Zwosta will mehr wissen und begibt sich auf Spurensuche. Sie findet Tagebücher, Fotos und Briefe von ihren Eltern. Damit rekonstruiert sie ihre Kindheit. Was sie findet, schockiert sie.

Sie wusste nicht, dass ihr Vater zur Nazi-Partei gehörte. „Ich hatte ein idealisiertes Bild von ihm, das nicht real war“, sagt Zwosta. Sie kannte ihn kaum. Denn: Der Schulleiter kommt eines Tages nicht mehr aus dem Krieg zurück. Auch mit ihrer Mutter spricht Zwosta nicht über die Kriegserlebnisse. Beide Eltern nehmen ihre Erinnerungen mit ins Grab.

Traumata werden an die nächste Generation übertragen

Das ist der „stumme Schrei“, den viele Kriegskinder erleben, sagt Zwosta. „Ich will nicht mehr schweigen.“ Das Sprechen über die Kriegserlebnisse ist für sie ein wichtiger Bestandteil, um ihr Trauma zu verarbeiten.

Wer nicht darüber rede, übertrage seine Traumatisierung auf seine Nachkommen. Das nennt die Wissenschaft „transgenerationale Weitergabe“. Konkret heißt das: Traumatisierte Menschen reichen ihr Trauma unbewusst an ihre Kinder weiter.

Deshalb schrieb Zwosta ihr Buch vor allem für ihre Familie – aber auch für andere Menschen. „Wir sprechen viel über den Zweiten Weltkrieg, aber persönliche Erlebnisse kommen dabei fast nie zur Sprache.“

Sie weiß, dass sie sich mit dem Veröffentlichen ihrer Lebensgeschichte angreifbar macht. Allerdings fühlt sie eine Verpflichtung. Das Schweigen müsse ein Ende finden. Denn Kriege gibt es immer noch.

Buchtipp

Helga Zwosta „Der stumme Schrei“, 198 Seiten, 2021 Europa Verlagsgruppe, ISBN 979-12-201-0822-5, Preis 14,90 Euro

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