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Bühl vor 100 Jahren

Die "Goldenen Zwanziger" waren in Bühl alles andere als golden

Es ist ein immer wieder gern beschworener Mythos, doch für viele Regionen trifft das Bild von den "Goldenen 20ern" ganz und gar nicht zu. In Bühl herrschte in jener Zeit auf vielen Ebenen der Mangel. Doch gab es auch manch Neues.

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Im Biedermeier-Stil geht es 1925 in Bühl auf die Fastnacht. Als im Jahr darauf die Narrhalla 100 Jahre alt wird, fällt das Narrentreiben aus – ein Tribut an schwere wirtschaftliche Zeiten. Foto: Stadtgeschichtliches Institut Bühl

Sie sind ein Mythos: die „Goldenen Zwanziger Jahre“. In Bühl kann von goldenen Zeiten nicht die Rede sein. Der Rückblick zeigt ein Jahrzehnt voller Schwierigkeiten, von Not und Mangel. Aber auch Neues entsteht - und ist nicht gleich überall willkommen.

Es war ein beliebtes Bild in mancher Neujahrsansprache: Die „Goldenen Zwanziger“ haben begonnen. Historisch und aus dem mittelbadischen Blickwinkel betrachtet ist die Beschwörung dieser Epoche ein glatter Fehlgriff: Die „Goldenen Zwanziger“ waren zeitlich beschränkt auf die Phase der relativen Stabilität der Weimarer Republik und damit auf die Jahre 1924 bis 1929, und sie waren in allererster und wohl auch ausschließlicher Linie ein Phänomen der Metropolen.

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Ein Bild vom Zwetschgenfestumzug 1927: Der Wagen greift die (nicht verwirklichten) Pläne für einen Bühler Flughafen auf, der dem Obstversand dienen sollte. Foto: Stadtgeschichtliches Institut Bühl Foto: None

Verzicht auf Fastnacht - wegen Armut und Not

In Bühl sind die Zeiten alles andere als golden. Gut, beim allerersten Zwetschgenfest 1927 steigt als Werbegag eine goldene Zwetschge in Ballonform in die Luft - aber nur, weil für die sehr kurzfristig organisierte Aktion blauer Stoff nicht verfügbar ist.

Die meiste Zeit herrschen Mangel und Not. Die Jahre von 1918 bis 1923 verlangen alles ab, und bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929/30 stürzen Bühl und seine Menschen immer wieder in tiefe Depression. 1926, als die Narrhalla 100 Jahre alt wird, verzichten die Fastnachter wegen schwerer wirtschaftlicher Zeit und Not auf Kappensitzung und Umzug, „denn es geht nicht an, auf der einen Seite über bittere Armut und große Not, konkurse Geschäftsaussichten, Arbeitslosigkeit, Mangel an Aufträgen bei unseren Handwerkern und übrigen Geschäftsleuten zu klagen und auf der anderen Seite von einer Veranstaltung in die andere zu taumeln“.

Soziale Ausgaben haben einen „bedrohlichen Höhengrad“ erreicht. Andererseits sollen zwei Bälle die „Interessen weiter Kreise des Handels und Gewerbes, die von Fastnacht Verdienst erwarten“, befriedigen. Schon 1921 hat die badische Regierung alles öffentliche Fastnachtstreiben untersagt.

Viele Lebensmittel sind knapp

Bis weit hinein in das Jahrzehnt ist die Lebensmittelversorgung prekär. Brot, Fleisch, Kartoffeln, Milch, Zucker, Fett sind knapp: Regelmäßig muss der Acher- und Bühler Bote über Mangelwirtschaft berichten. Der Krieg hat sämtliche Vorräte aufgefressen, schlechte Ernten, Schiebung und Hamsterer, hohe Preise kommen dazu. Dass Bühl ein teures Pflaster sei, wird zur stehenden Redewendung. Die Hotels in Baden-Baden und an der Schwarzwaldhochstraße zahlen jeden Preis und treiben ihn damit auch für die Umgebung in schwindelnde Höhen. Bis 1923 ist eine Volksküche geöffnet, erst danach bessert sich die Situation.

Es mangelt an Wohnungen

Das fehlende Brot ist nicht die einzige Sorge vieler Familien. Es mangelt an Wohnungen. Manche Familien kommen bei Bekannten unter, andere hausen in Höhlen, die das Wort Zuhause verhöhnen. Die Liste der Wohnungssuchenden, die die Stadt seit November 1919 führt, belegt die Nachhaltigkeit des Problems. Denn 1928 ist die Liste nicht kürzer als 1919.

Auch dieses Dilemma hängt mit der Krake Krieg zusammen. Während des Völkerringens hat der Maurer statt der Kelle das Sturmgewehr in seine Hände genommen. Als nach dem Krieg Bauen wieder möglich ist, fehlt es an Baustoffen. Zudem kommen auch durch neu angesiedelte Firmen mehr Menschen in die Stadt; auch das Militär braucht seinen Platz. Der rege Wohnungsbau, der sich auch in der Bebauung der Bademer Bühn und der Schloßbühn zeigt, kann das Problem nur lindern, nicht beheben.

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Städtisches Notgeld: Die Inflation ruiniert auch in Bühl Existenzen. Foto: Sammlung Ibach Foto: None

Die Stadt druckt Notgeld

Und natürlich ist da die Monster-Inflation von 1923, als auf Geldscheinen astronomisch hohe Summen erscheinen. Das städtische Notgeld, das jetzt gedruckt wird, hat einen Wert von insgesamt 100 Billionen. An den Folgen der Inflation ändert das nichts.

Im Juni 1925 schreibt das Bürgermeisteramt an das Bezirksamt, dass sie „vor allem ältere alleinstehende Frauen schwer getroffen hat“, die zuvor in recht guten Verhältnissen gelebt haben. Wie die Inflation Existenzen ruiniert, zeigt das Beispiel des einstigen Besitzers des Hotels Wiedenfelsen, der jetzt in Bühl lebt. Die 220.000 Mark, die er 1918 beim Verkauf des Hauses an die Stadt Mannheim erhielt, hat er zinstragend angelegt. Die Inflation raubt ihm die Zukunft, körperlich und seelisch ist er gebrochen. Dass die Stadt Mannheim, deren Immobilie keinen finanziellen Schaden übernimmt, dem Mann 500 Mark überweist, hilft ihm kaum.

Sehnsucht nach Ablenkung vom Alltag

Nach den Nöten von Krieg und Inflation sucht der Mensch Zerstreuung, Ablenkung vom harten Alltag, und das gesellschaftliche Leben regt sich wieder. Die vor dem Krieg so beliebten Vereinsausflüge kommen wieder in Mode. Neue Vereine treten auf. Unter Vorsitz des Bürgermeisters konstituiert sich im August 1921 ein Musikverein. Sein Ziel: „... daß wir in Bühl eine tüchtige Stadtkapelle erhalten.“

1925 sieht die Stadt einen „Automobil- und Motorradclub“. Das ist auch ein Zeichen für die Moderne, die Einzug gehalten hat. Das Symbol altväterlicher Zeit, der Nachtwächter, wird zu einer Gestalt der Geschichte. 1926 erschallt zum letzten Mal sein „Hört, ihr Leute...“.

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Autos in der Bühler Hauptstraße: Nicht jedem ist die neue Technik willkommen. Wann das Bild entstanden ist, ist unklar – vermutlich gegen der Ende der 1920er Jahre, möglicherweise auch in den frühen 1930er Jahren. Foto: Sammlung Ibach Foto: None

Das Auto ist das Symbol der neuen Zeit

Symbol der neuen Zeit ist das Auto. Doch damit hadert mancher noch. Im Juli 1923 soll für ein Autofernrennen die Bühler Hauptstraße eine Stunde lang gesperrt werden. Der Acher- und Bühler Bote listet Vorschläge auf, die die Haltung gegenüber der neuen Technik belegen: Wegen der Gefahr, die von dem Rennen ausgehe, soll die Schule geschlossen bleiben, die Bürger mögen die Hauptstraße meiden.

Ein Eisbär im Stadtgarten

1927 kommt eine Tierschau nach Bühl, die mit seltsamen Attraktionen wie boxenden Kängurus allein 8.000 Kinder anlockt. Die Lokalzeitung erlaubt sich zum 1. April einen Scherz und meldet, dass die Veranstalter zum Dank für die gute Aufnahme der Stadt einen Eisbären schenkten. Nach einem Umbau soll das Wasserbecken im Stadtgarten seine Heimat werden.

Und dann wird ein Fest „erfunden“: Obstfest nennen es die Veranstalter, und der Begriff späterer Jahre fällt auch schon: Zwetschgenfest. Die Wertung nach drei rauschenden Tagen im August besitzt etwas Prophetisches: „Das Obstfest 1927 in Bühl wird nicht vergessen werden.“

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Nasses Vergnügen: Es benötigt mehrere Anläufe, ein Schwimmbad zu errichten. Der reguläre Badebetrieb bei der Bergermühle beginnt 1923. Die Aufnahme ist 1927 entstanden. Foto: Stadtgeschichtliches Institut Bühl Foto: None

„Ausmerzung jeglicher Wasserscheu“

Mehrere Anläufe, ein Schwimmbad zu errichten, scheitern. Erst als der VfB Bühl eine Schwimmabteilung gründet, deren Ziel zunächst der Bau von Badeanlagen ist, geht der Wunsch in Erfüllung. Im November 1921 beschließt der Bürgerausschuss den Bau eines Schwimmbads. Mitglieder von VfB und TV Bühl packen auf dem Gelände hinter der Bergermühle mit an. 1923 beginnt der reguläre Badebetrieb.

Es herrschen strenge Sitten. Männlein und Weiblein dürfen nicht zur gleichen Zeit ins Bad. In Leserbriefen werden Familientage gefordert, die nach über zehn Jahren 1935 eingeführt werden. 1923 gründet der Turnverein eine Schwimmabteilung. Anfänger „erhalten regelrechten Schwimmunterricht bei Ausmerzung jeglicher Wasserscheu“.

Kinofilme sind Stadtgespräch

Bietet das Schwimmbad die Möglichkeit zur aktiven Erholung, so suchen die Bühler im Kino die passive Ablenkung. In den Weimarer Jahren beginnt die Bühler Kinogeschichte so richtig, nachdem 1912 vorübergehend schon Kinovorführung anlockten.

Bereits vor, während und direkt nach dem Krieg hat es Filmvorführungen gegeben, in der Realschule, im Gasthaus Burg Windeck, wo Josef Hemmerle und seine Söhne das „Windeck-Kino“ betreiben, und unter städtischer Regie auch im Friedrichsbau. 1928 beginnt eine neue Kinoära: Mit der „Königin seines Herzens“ nimmt der Baden-Badener Unternehmer Max Steib den Betrieb im „Rheingold auf“. Das Kino ist eine Attraktion sondergleichen. Über viele Jahre hinweg ist es rappelvoll, die Aufführungen sind Stadtgespräch.

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Gruppenbild vom Tanzkränzchen des Katholischen Jungmännervereins im Mai 1925. Foto: Stadtgeschichtliches Institut Bühl Foto: None

Gemischte Gefühle beim Jazz

Moderne Technik, moderne Kunst: Im September 1924 findet das erste Jazzkonzert in Bühl statt. Für den Kritiker des ABB darf das Erlebnis einmalig bleiben:

„Die ’Jazz-Kapelle’ gab Sonntag-Abend im Friedrichsbau ihre Vorstellung bei gut besetztem Haus. Doch nur mit gemischten Gefühlen konnte man diesen Kunsterguß in sich aufnehmen. Von Musik konnte man recht wenig vernehmen; dafür drang das Schlagzeug umso besser durch. Alles in allem: Die edle Kunst der Musik ging in dem lärmenden Klang der Glocken, Becken und großen Trommel unter. In Anbetracht der hohen Eintrittspreise erhoffte man doch etwas mehr Kunst, als was hier geboten wurde.“

Auch nach einem Tanzkränzchen des Katholischen Jungmännervereins im Mai 1925 gibt es kritische Töne: „Für die Musik hatten wir eine vier Mann starke Jazzkapelle von Baden gewonnen, deren Spiel jedoch leider nicht ganz befriedigte.“

Ein Bild vom Glück vergangener Tage

Herkömmliche Feste sind mehr nach dem Geschmack der Bühler. Das Glockenfest im Januar 1925 – neue Glocken werden auf den Kirchturm gezogen – zeichnet ein Bild vom Glück vergangener Tage. Für Stunden hält die Stadt inne und feiert, als hätte es Krieg und Not nie gegeben. Doch selbst das Feiern macht Probleme, denn es fehlt der geeignete Platz dafür. Ein Festplatz soll im Garten der „Traube“ entstehen. Nach zwei Jahren Planung wird das Kapitel 1931 geschlossen, weil „die heutige Zeit der Not nicht dazu angetan ist, einen Festplatz zu errichten“.

Auch wenn die 1920er Jahre da schon vorüber waren, ist dies ein weiterer Beleg dafür, dass in jener Epoche nur sehr wenig golden glänzte. Und im Hintergrund lauerte bereits noch viel Schlimmeres.

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