Skip to main content

Am Rande der Gesellschaft

Für Obdachlose: In der „Pflasterstube“ in Offenburg gibt es kostenlose Zahnbehandlungen

Kirsten Holst gab ihre Praxis auf – und versorgt Randgruppen auch in der Ortenau. Was sie dabei glücklich macht und die Patienten voneinander unterscheidet.

Kirsten Holst während der Behandlung eines Obdachlosen in der „Pflasterstube“ in Offenburg. 
Kirsten Holst während der Behandlung eines Obdachlosen in der „Pflasterstube“ in Offenburg.  Foto: Katrin König-Derki

Es regnet. Und das, sagt Kieferorthopädin Kirsten Holst, sei nicht gut. Holst weiß: Bei Regen kommen die Wohnungslosen, die sie in der Sozialeinrichtung „Pflasterstube“ einmal wöchentlich gratis behandelt, eher nicht. Auch Krankenschwester Ute Vogt, die den Kontakt zu diesen Patienten vermittelt, ist skeptisch, ob sich der Besuch der Zahnärztin heute lohnt. 

Daher freuen sich die Damen, dass doch zwei Männer auftauchen: Ein Rumäne, für den Holst ein Gebiss angefertigt hat – er spricht kaum Deutsch –, und Tom S. (Name von der Redaktion geändert) zur Routineuntersuchung. Beide wohnen momentan im „Erfrierungsschutz“, einer Unterkunft, die Obdachlosen in den Wintermonaten offensteht.

Erinnerungen an eine unauffällige Kindheit und Jugend

Tom S. hat ein waches Gesicht und erweist sich als schlagfertig und kultiviert. Sein Leben zu rekonstruieren, bleibt indes schwierig. Er erzählt eher bruchstückhaft von seinen Kindheitssommern in Spanien, von seiner Zeit im Internat und der Ausbildung zum Kfz-Mechaniker. Von seiner geliebten Musik auch: „Früher habe ich Gitarre gespielt.“

Dass er gern Reggae mag, liegt auf der Hand, hat er doch lange Dreadlocks, und auf die ist er stolz. „Ich höre aber auch gern Bach und Mozart und so.“ In dem Kontext beginnt er zu fachsimpeln, Stichworte Musikverständnis der Klassik, Klang der Sprache, die Bedeutung von Musen.

Alkohol, Drogen und psychische Probleme können in Obdachlosigkeit führen

Was aber geschah mit Tom S.? Warum lebt er heute auf der Straße? Das lässt sich nur erahnen. Er erwähnt das Drogenmilieu, in dem er als junger Mann landete. Die 1960er-Generation, die auch die Nachkommen prägte. Die vielen Jahre, die er von Ort zu Ort tingelte. Heute, sagt Tom S., kiffe er nur noch. Vom Alkohol halte er sich fern, außer jüngst an Weihnachten, wie er rührend ehrlich erzählt: „Da habe ich drei Bier getrunken!“

Kirsten Holst kennt Tom S. schon lange; er gehört ihr zufolge nicht zu der Klientel, die alkoholisiert oder unter starkem Drogeneinfluss bei ihr auftaucht. „Ich behandle hier, wie auch in Rastatt, Karlsruhe und Straßburg, wo ich entsprechende Ansprechpartner habe, im Wesentlichen zwei Gruppen“, erklärt sie.

„Die Älteren haben meist Alkoholprobleme, sie treten in der Regel friedlich auf. Unter den Junkies hingegen sind viele junge Leute und sie werden häufig aggressiv.“ Allerdings attackierten sie sich ausschließlich untereinander.

Bei den Junkies kann ich dem körperlichen Zerfall zuschauen.
Kirsten Holst
Zahnärztin

Alkoholabhängigkeit, so Holst, ziehe ein langsames Abdriften in die gesellschaftliche Randexistenz nach sich, oft sei das ein Prozess von Jahrzehnten. „Bei den Junkies kann ich dem körperlichen Verfall zuschauen, bis hin zum Drogentod.“ An den Zähnen lese sie die Vorgeschichte ab.

„Die zerbröseln. Das macht eine Behandlung quasi unmöglich, weil zum Beispiel für Füllungen gar kein Halt mehr da ist.“ In die Obdachlosigkeit, sagt sie, könnten auch extremer Stress oder Schicksalsschläge führen. „Generell haben alle Menschen, die auf der Straße landen, psychische Probleme.“ 

Schlechte Erfahrungen in regulären Zahnarztpraxen fördern Scham und Ängste

Auf die Frage, warum jene, die krankenversichert sind, nicht zum regulären Zahnarzt gehen, schildert Holst den herablassenden oder gar schlampigen Umgang mit Obdachlosen gerade in Arztpraxen. „Viele meiner Patienten sind schon schlecht behandelt worden“, sagt Holst, und Vogt ergänzt: „Ich weiß von einem, dem der Zahnarzt ohne Betäubung einen Zahn zog.“

Diese Erfahrungen führten neben der ohnehin großen Scham, obdachlos zu sein, zu Ängsten. Deshalb geht Holst behutsam vor. „Ich schaue mir erst einmal nur an, wie es im Mund aussieht, und rede mit den Leuten.“

Es ist immer wieder bewegend, wie glücklich ein Gebiss machen kann.
Kirsten Holst
Zahnärztin

Mit ihren Hilfseinsätzen möchte Holst nicht nur Zahnschmerzen vorbeugen, sondern Zahnlosen mittels Prothesen auch das Essen erleichtern und eine gewisse Würde zurückgeben.

Der Rumäne etwa hat nur noch einen Zahnstummel. „Es ist immer wieder bewegend, wie glücklich ein Gebiss machen kann: Meine Patienten können dann auch wieder selbstbewusst lachen!“

Die Prothesen für weitgehend zahnlose Patienten passt Kirsten Holst am Tag der Übergabe final an.
Die Prothesen für weitgehend zahnlose Patienten passt Kirsten Holst am Tag der Übergabe final an. Foto: Katrin König-Derki

Sie zeigt die Veränderung eines Gesichts mit und ohne Gebiss anhand von Fotos: Der Unterschied ist frappierend. Auch der Rumäne wird, nachdem seine neuen Zähne eingesetzt sind, abgelichtet – und strahlt.

Hilfseinsätze werden vorrangig über Spenden finanziert

Die Fotos, so Holst, seien wichtig für die Spendenakquise. Denn: Sie gab ihre Praxis in Bühl 2017 auf, um sich aus christlicher Motivation heraus nur noch Obdachlosen, Prostituierten und Häftlingen zu widmen, die sich den Besuch beim Zahnarzt nicht leisten können. Sie versorgt zudem Bedürftige in der „Dritten Welt“.

Für ihr mobiles Equipment, vor allem aber für Prothesen und Füllungen, benötigt sie allerdings Geld. Ihre privaten Ersparnisse hat sie inzwischen aufgebraucht, ihre Rente reicht für das kostenintensive Engagement nicht aus.

Wenn die neuen Zähne am Ende passen, ist nicht nur der Patient glücklich.
Wenn die neuen Zähne am Ende passen, ist nicht nur der Patient glücklich. Foto: Katrin König-Derki

„Meine Gemeinde hat daher den Verein ‚Konkordia hilft‘ gegründet, um meine Einsätze zu finanzieren. Natürlich freue ich mich über jede weitere Spende.“ Im Ausland sei sie schon seit 2010 wochenweise unterwegs, zunächst parallel zu ihrer Praxisarbeit in Bühl. „Seither wuchs in mir die Sehnsucht, mehr Menschen durch praktische Hilfe die Liebe Jesu erleben zu lassen.“

Solche Sätze klingen bei Kirsten Holst handfest: Sie hat nichts Betuliches an sich. Im Umgang mit ihren Patienten dürfte das von Vorteil sein. „Komm, den Zahn ziehe ich dir, den kann ich nicht mehr retten“, sagt sie zu Tom S., der heftig den Kopf schüttelt und sich auf einen witzigen Dialog einlässt.

Sein Dickkopf siegt: Der Zahn bleibt drin. Auch wenn Holst prophezeit, dass Tom S. bald wieder vor ihr steht, dann mit einer dicken Backe und Schmerzen. Aber bis dahin, kontert der, „habe ich einen Zahn mehr“.

nach oben Zurück zum Seitenanfang