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Chess960 begeistert Carlsen

Freistil-Variante auf dem Schachbrett „ist wie frische Luft!“

Spitzenschach ist langweilig geworden, weil die Programme die Eröffnungstheorie ausanalysieren. Magnus Carlsen erhofft sich mehr Leben durch Chess960.

Magnus Carlsen (links) trifft an Ostern in Karlsruhe wieder Hans Niemann, der ihn verklagt hatte und für das Open in Karlsruhe meldete. Einstweilen genießt Carlsen aber erst einmal das Chess960-Turnier an der Ostsee.
Magnus Carlsen (links) trifft an Ostern in Karlsruhe wieder Hans Niemann, der ihn verklagt hatte und für das Open in Karlsruhe meldete. Einstweilen genießt Carlsen aber erst einmal das Chess960-Turnier an der Ostsee. Foto: Crystal Fuller/Saint Louis Chess Club/dpa-Archiv

Steht die Schachwelt bereits trauernd am Grab des Turnierschachs? Obwohl der schier unschlagbare Kubaner José Raoul Capablanca, Weltmeister von 1921 bis 1927, schon in seiner Ära den „Remistod“ für das königliche Spiel prophezeit hatte, ging der Spaß auf den 64 Feldern noch rund ein Jahrhundert weiter. Inzwischen ist zumindest das Spitzenschach aber tatsächlich vom „Remistod“ bedroht.

Schach-Programme sind die Totengräber des königlichen Spiels

Totengräber sind die Schach-Programme. In der Eröffnungsvorbereitung helfen sie den Top-Großmeistern, immer tiefer in die Verästelungen der Varianten einzudringen. Schnelle Siege wegen gegnerischer Patzer sind ausgeschlossen. Es geht nur darum, sich an die Varianten zu erinnern, sie herunterzuspulen und nach 25 bis 30 Zügen eine spielbare Stellung mit Weiß oder Schwarz zu erhalten.

Aufregende Dramen und Fehlgriffe fehlen

Aufregende Dramen und Fehlgriffe verhindern die Elektronenhirne im Vorfeld. All die langweiligen, weil ausbalancierten Stellungen nicht zu remisieren und doch einen vollen Punkt herauszukitzeln, darin ist Magnus Carlsen ein wahrer Meister.

Selbst Magnus Carlsen ermattet die Eröffnungs-Fron

Aber selbst der Weltranglistenerste fühlt sich müde – das gipfelte darin, dass der Norweger auf eine Verteidigung seines WM-Titels im Vorjahr verzichtete. Zu qualvoll schien ihm die monatelange Vorbereitung in der Eröffnung auf einen Gegner. Um ihn ans Brett zu bewegen, designte der neue Schach-Sponsor Jan Henric Buettner in Weissenhaus an der Ostsee ein Turnier nach den Wünschen von Carlsen.

Der 33-Jährige schlug ein Chess960-Turnier vor, das Freestyle Chess G.O.A.T Challenge genannt wurde, und dem Sieger 60.000 US-Dollar verspricht. „Es ist das erste Mal, dass wir Chess960 mit klassischer, langer Bedenkzeit spielen. Das ist bahnbrechend für unseren Sport“, begeisterte sich Carlsen vor dem ersten Zug für das „Freistil“-Turnier.

Als erster Großmeister hat Bobby Fischer, legendärer US-Weltmeister von 1972, die Idee propagiert. Der Bad Sodener Organisator Hans-Walter Schmitt verfeinerte die Idee in den 1990er Jahren.

Hessischer Visionär Hans-Walter Schmitt verpasst Variante knackigeren Namen

Den sperrigen Namen Fischer Random Chess ersetzte der Visionär durch das knackigere Chess960. Zudem trug Schmitt in Frankfurt und Mainz erste Turniere damit aus und förderte deutsche Meisterschaften darin. Nach anfänglicher Reserviertheit der Spieler gewann Chess960 zunehmend mehr Fans.

Startaufstellung wird unter 960 Möglichkeiten ausgelost

Bei der Schach-Variante wird die Grundstellung unter 960 Möglichkeiten zufällig (Random) direkt vor der Partie nach bestimmten Regeln ausgelost. So bleibt ein Läufer auf den weißen Feldern und der andere auf den schwarzen. Die 16 Bauern stehen alle wie gewohnt. Auf den beiden Grundreihen gibt es ansonsten nur zu beachten, dass der König zwischen beiden Türmen steht. So ist weiterhin die große und kleine Rochade möglich. Der König und der Turm stehen danach wie im normalen Schach.

Könige und Türme ziehen bei den Rochaden kürzer oder länger als gewohnt

Ungewohnt ist für die Spieler lediglich, dass der König und die Türme bei der Rochade kein Feld oder mehr Felder als normal überspringen. Letztlich kommen die beiden Figuren nach der Rochade aber so zum Stehen wie im herkömmlichen Schach. Das klingt komplizierter, als es ist.

Neues Terrain ab dem ersten Zug bietet mehr Spielraum

Mangels vorbereiteter Varianten beschreiten die Großmeister bereits ab dem ersten Zug neues Terrain. Carlsen startete zwar in der Vorrunde bescheiden mit nur 3,5 Punkten aus sieben Schnellschach-Runden, weil er dem erstplatzierten Usbeken Nodirbek Abdusattorow (5,5) unterlag. Die deutsche Nachwuchs-Hoffnung Vincent Keymer (5) wurde Zweiter. In der K.o.-Runde mit langer Bedenkzeit zog der Weltranglisten-17. aber gegen Lewon Aronjan (USA) den Kürzeren.

Carlsen schlägt zurück und spielt im Finale gegen Fabiano Caruana

Carlsen ließ sich im Viertelfinale nicht durch eine weitere Niederlage aus dem Konzept bringen, glich gegen Alireza Firouzja (Frankreich) aus und setzte sich in der Verlängerung mit 3:1 durch. Anschließend eliminierte der Norweger seinen Bezwinger Abdusattorow mit einem Sieg und einem Remis. Gegner im Finale, das am Freitag entschieden wird, ist Fabiano Caruana (USA), der Aronjan nach einem wilden Schlagabtausch ohne Remis mit 3:2 schlug.

Frischer Wind weht Weltmeister Ding Liren trotz Vorfreude weg

Während Carlsen von den Fans als „Positionsmonster“ für sein virtuoses Positionsspiel gefeiert wird, kam es für Weltmeister Ding Liren ganz dicke. Dabei hatte sich der nach dem Titelgewinn völlig ausgebrannte und mehrere Monate abgetauchte Chinese so auf das Turnier gefreut: „Das ist wie frische Luft!“, ordnete der 31-Jährige Chess960 gegenüber der „Zeit“ ein. Dem Wochenblatt gegenüber betonte er aber auch: „Es gibt keine vorbereiteten Varianten, aber es ist deshalb auch schwieriger zu spielen.“

Das bestätigte sich bei ihm besonders. Ding Liren kassierte allein in der Vorrunde sechs Niederlagen und remisierte die siebte Partie. Besonders heftig viel seine Schlappe gegen Aronjan in nur 18 Zügen aus! Im üblichen Schach hätte das eine gute Eröffnungsvorbereitung verhindert ...

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