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Der ehemalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, aufgenommen am Rande einer Pressekonferenz am 21.11.2011 in Berlin.

Nobelpreisträger gestorben

BNN-Autor Alexei Makartsev erinnert an Michail Gorbatschow

Er galt als einer der Väter der Deutschen Einheit: Nun ist der russische Friedensnobelpreisträger und ehemalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow nach schwerer und langer Krankheit gestorben. Ein Nachruf von BNN-Autor Alexei Makartsev.
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In einem Interview vor seinem 85. Geburtstag zog Michail Gorbatschow eine zufriedene Bilanz seiner Karriere. Er sei nicht unglücklich über die vielen Rückschläge und Hindernisse auf seinem Lebensweg, sagte der erste und letzte Präsident der Sowjetunion: „Ich weiß, dass es keine glücklichen Reformer gibt. Ich bin dem Schicksal dankbar dafür, dass ich meinen Landsleuten erklären konnte, dass man nicht weiter so leben durfte, wie wir damals gelebt haben.“

Es war eine Untertreibung. Nicht nur hatte der Friedensnobelpreisträger und Schöpfer der „Perestroika“ in den 1980er-Jahren sein Volk davor bewahrt, in einem unfreien, menschenverachtenden und verfallenden Staat eingesperrt leben zu müssen. Der Mann mit dem auffälligen Muttermal auf der Stirn hatte auch die Chance ergriffen, die globale Konfrontation zweier politischer Systeme zu beenden und nach dem Kalten Krieg eine neue Ära der Entspannung einzuleiten.

Gorbatschow hatte gemeinsam mit anderen Politikern den Eisernen Vorhang heruntergerissen und den Deutschen das Leben in einem gemeinsamen Land ermöglicht. Für seine Politik der Öffnung musste er jedoch später in der Heimat mit dem Stigma des Landesverrats leben. Im Westen bis zum Schluss verehrt, in Russland oft gedemütigt und verachtet, ist einer der großen Staatsmänner der Geschichte am Dienstag nach einer langen Krankheit mit 91 Jahren gestorben.

Er wurde immer wieder gefragt, wann genau er das Ja zur deutschen Wiedervereinigung gesagt hat. „So einen Tag gibt es nicht“, erklärte geduldig Michail Gorbatschow. Ähnlich lässt sich der erstaunliche Wandel eines durchschnittlichen Parteifunktionärs aus der südrussischen Provinz in einen Reformer mit globalen Visionen nicht an einem konkreten Datum oder Ereignis festmachen.

Michail Gorbatschows Stunde schlug 1985

Der studierte Jurist und Agrarexperte Gorbatschow schien bis zum Alter von 55 Jahren ein Musterprodukt des kommunistischen Systems zu sein, dessen wichtigste Aufgabe es war, die Rotation der greisen Strippenzieher im Politbüro des zentralen Parteikomitees verlässlich zu sichern. 1980 wurde der ehrgeizige Apparatschik selbst in die Schaltzentrale der Macht gewählt. Seine Stunde schlug am 10. März 1985, als der 73-jährige Parteichef Konstantin Tschernenko an Leberzirrhose starb.

Binnen Stunden fand im Kreml eine Eilversammlung statt, auf der drei Rivalen Gorbatschows fehlten. Um seine Chancen zu verbessern, traf der jüngere ZK-Sekretär davor heimlich den Außenminister Andrej Gromyko und bot ihm die Zusammenarbeit an. Daraufhin schlug Gromyko der Runde Gorbatschow als den neuen Generalsekretär vor. Zwei der ältesten und mächtigsten Politbüro-Mitglieder sagten Ja, damit war die Entscheidung gefallen. Der 54-Jährige wurde zum Herrscher des riesigen sozialistischen Imperiums.

„Perestroika“ und „Glasnost“ sind untrennbar mit ihm verbunden

Gorbatschow muss zu jenem Zeitpunkt bereits an fundamentale Umwälzungen in seinem Land gedacht haben. Denn nur einen Monat später verkündete er einen beispiellosen Reformkurs, der keinen Bereich des Sowjetstaates aussparen sollte. Bald lernte die ganze Welt die russischen Worte „Perestroika“ (Umbau) und „Glasnost“ (Transparenz).

Der neue Generalsekretär schaffte die Zensur ab, er führte das Mitbestimmungsrecht für Arbeiter in Betrieben ein und förderte die Genossenschaften als Keimzelle des späteren privaten Unternehmertums. Die Menschen konnten erstmals in freien Wahlen ihre „Volksdeputierten“ für den Obersten Sowjet bestimmen. Gorbatschow ließ viele Opfer der Stalin-Repressionen rehabilitieren und holte den bekannten Menschenrechtler Andrei Sacharow aus dessen langjähriger Verbannung in Gorki.

Nicht minder revolutionär war die Außenpolitik des charismatischen Machthabers in Moskau, die den Namen „neues Denken“ trug. So rückte Gorbatschow von der alten sowjetischen Leitidee des globalen Überlebenskampfes zweier Klassensysteme ab und erklärte „humanitäre Werte“ zum höchsten Gut der Menschheit. Er war es, der die auf Kooperation ausgerichtete Idee des „gemeinsamen europäischen Hauses“ prägte, die noch bis vor einigen Jahren viele EU-Politiker bewegt hat.

Gorbatschows Pragmatismus löste harte Konfrontation mit den USA ab

Gorbatschows Prinzip des pragmatischen Interessenausgleichs löste die vom nuklearen Wettrüsten getriebene, harte ideologische Konfrontation mit den USA ab.

Der Kremlchef verzichtete auf Atomwaffentests, schaffte gemeinsam mit US-Präsident Ronald Reagan die nuklearen Mittelstreckenraketen ab und ließ später Tausende Gefechtsköpfe von Interkontinentalraketen verschrotten. Zudem holte er seine Militärs aus Afghanistan zurück.

Deutsche sind Gorbatschow dankbar für seine Rolle bei der Wiedervereinigung

Die Deutschen werden Gorbatschow noch lange für seine Rolle in der Wiedervereinigung zweier durch Mauern, Minenfelder und Stacheldraht getrennter Staaten dankbar sein. Möglicherweise hätte Deutschland auch ohne „Gorbi“ zusammengefunden, doch dieser Prozess hätte wohl viel länger gedauert.

ARCHIV - Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow (l) wird nach seiner Ankunft zu den Feierlichkeiten zum 40jährigen Staatsjubiläum der  DDR am 6. Oktober 1989 in Ost-Berlin von dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker mit dem traditionellen Bruderkuß willkommen geheißen. Am 09.11.2014 feiert Berlin den 25. Jahrestag der Maueröffnung. Foto: Wolfgang Kumm/dpa (zu dpa Themenpaket: "25 Jahre Mauerfall" vom 30.10.2014) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit
Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow (links) wird von Erich Honecker mit dem traditionellen Bruderkuss willkommen geheißen Foto: Wolfgang Kumm

„Die Geschichte wird entscheiden. Nach dem Krieg hatte sie nun einmal so entschieden. Warten wir ab, ob sie es sich vielleicht noch einmal anders überlegt“: Mit diesen Worten hatte der sowjetische Parteichef bereits im Mai 1987 in Moskau seinem Staatsgast, dem Bundespräsidenten Friedrich von Weizsäcker, Hoffnung auf die Einheit gemacht.

1989 sah er während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR, wie groß die Sehnsucht des sozialistischen „Brudervolkes“ nach der Freiheit war. Gorbatschow wusste, er hatte kein Recht, sie ihm zu verweigern. Binnen drei Monaten wurden 1990 in Moskau, Bonn und im Kaukasus mit Beteiligung des damaligen Kanzlers Helmut Kohl (CDU) die wichtigsten Aspekte der Einheit geregelt.

Bundeskanzler Helmut Kohl (rechts), der sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow (Mitte), Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (links) und der sowjetische Außenminister Edward Schewardnadse unterhalten sich am 15. Juli 1990.
Bundeskanzler Helmut Kohl (rechts), der sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow (Mitte), Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (links) und der sowjetische Außenminister Edward Schewardnadse unterhalten sich am 15. Juli 1990. Foto: Pool picture alliance / dpa

Für den vorsichtigen Strategen in Moskau war die Wiedervereinigung letztlich doch zu schnell erfolgt. Später bereute Gorbatschow, dass Deutschland kein neutraler Staat geworden war. Hätte man die Deutschen gefragt, hätten sie sich sicher gegen die Nato-Mitgliedschaft entschieden, sagte er.

Während das Ausland den freundlichen Kommunisten in den 1980ern für seine Entspannungspolitik zunehmend überschwänglich feierte, wurde er in seiner Heimat unpopulär. Den Russen war ihr in elegante britische Anzüge gekleideter Herrscher einerseits zu intellektuell und elitär. Gorbatschow galt andererseits als zu weich und zögernd. Seine innenpolitischen Reformen führten in Moskau zu Spannungen, besonders seine rigorose Kampagne gegen den Alkoholkonsum löste beim trinkfreudigen Volk Katerstimmung aus.

Gorbatschow wollte die Sowjetunion eigentlich nicht auflösen

Entgegen der verbreiteten Meinung ging es Gorbatschow nie darum, die Zügel der kommunistischen Herrschaft gänzlich loszulassen oder die Sowjetunion aufzulösen. Vielmehr sollte sich der Sozialismus sanft erneuern, um in einer neuen, effizienteren Gestalt wiedergeboren zu werden.

Der Architekt der liberalen Reformen war bis zu seinem Tod davon überzeugt, dass seine Therapie für das kaputt gerüstete Land die einzig richtige gewesen war. „Die Perestroika endete zu früh. Hätten wir noch 15 bis 20 Jahre Zeit für Reformen gehabt, hätten wir das sozialdemokratische Projekt in Russland verwirklichen können“, bedauerte er später.

Der im März 1990 zum Präsidenten gewählte Gorbatschow hatte jedoch viel weniger Zeit. Durch seine „Perestroika“ hatte er gewaltige Fliehkräfte freigesetzt, die der mächtige Hausherr im Kreml nicht zähmen konnte. Die Völker der Sowjetunion pochten auf ihrem Selbstbestimmungsrecht, die Republiken strebten auseinander.

Die Moskauer Parteiführung sah sich gezwungen, vom April 1989 bis Januar 1991 gewaltsam drei größere Proteste in Georgien, Aserbaidschan und Litauen niederzuschlagen. Bei diesen Militäraktionen starben Hunderte Menschen. Dass Gorbatschow im Oktober 1990 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, erschien vielen seiner Landsleute als blanker Hohn.

Gescheiterter Putsch im Jahr 1991

Am 19. August 1991 versetzte eine Gruppe von kommunistischen Hardlinern der wankenden Sowjetunion den Todesstoß. Der Präsident war drei Tage lang in seinem Ferienhaus auf der Halbinsel Krim isoliert, während in Moskau ein „Notstandskomitee“ die Macht an sich riss.

Der gescheiterte Putsch war eine Rebellion der alten Parteikader, die Angst vor dem Verlust ihrer Privilegien hatten. Als der hilflose Oberbefehlshaber der Streitkräfte sichtlich erschüttert in die Hauptstadt zurückkehrte, war der Kommunismus in den Augen der Russen vollends diskreditiert. Gorbatschow selbst war blamiert. Der neue Held der Russen war ein leidenschaftlicher Antikommunist namens Boris Jelzin.

Verzweifelt versuchte daraufhin „Mr. Perestroika“ noch zu retten, was zu retten war. Mit seinem geplanten Unionsvertrag wollte Gorbatschow den Riesenstaat in eine Art Konföderation umwandeln mit relativ autonomen Teilen, die sich nicht länger dem Diktat Moskaus beugen sollten.

Sein 60-jähriger Gegner Jelzin trieb jedoch als Kämpfer um russische Souveränität mit aller Kraft die demokratische Revolution voran, bis jedem klar wurde: Das versprochene Recht auf Privateigentum, die neue Reisefreiheit und ein freies Leben ohne Angst vor der Behördenwillkür waren im angeschlagenen Vielvölkerstaat unter dem hilflos wirkenden Visionär Gorbatschow nicht länger denkbar.

Michail Gorbatschow, damals sowjetischer Präsident, winkt während einer Feier zum Tag der Revolution von der Tribüne des Roten Platzes in Moskau.
Michail Gorbatschow, damals sowjetischer Präsident, winkt während einer Feier zum Tag der Revolution von der Tribüne des Roten Platzes in Moskau. Foto: Boris Yurchenko/AP/dpa

Die Sowjetunion zerfiel etwa ein Jahr später in die noch heute bestehende Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Am nächsten Tag nach seinem Rücktritt als Staatschef am 25. Dezember 1991 fand der einst mächtigste Mann der Welt sein Arbeitszimmer im Kreml vom Rivalen Jelzin besetzt und seine Sachen in einen Haufen im Flur geschmissen.

„Es ging uns finanziell so schlecht wie allen anderen. Die Ersparnisse waren nichts wert. Wir besaßen weder Autos noch Häuser, die wir verkaufen konnten. Also fing ich an, zu schreiben“, erinnerte sich Gorbatschow später. Erst nachdem seine erfolgreichen Memoiren erschienen waren, konnte er aufatmen.

Für die Russen begann ein Jahrzehnt voller schmerzhafter sozialer Umbrüche, ein ständiges Auf und Ab im stürmischen Meer der demokratischen Hoffnungen mit einem unklaren Kurs. Das verschuldete Land schaffte es, seine Wirtschaft zu transformieren. Die einstigen Kollektivisten verwandelten sich in kapitalistische Individualisten. Aus Staatsdienern wurden Staatsbürger. Doch die verarmten Russen mussten dafür auch viele Ideale über Bord werfen und große private Opfer bringen.

Viele ältere Russen hielten Gorbatschow und Jelzin für Totengräber ihrer Zukunftsträume

Vor allem die älteren Menschen und diejenigen, die am Rand des Existenzminimums lebten, hielten Gorbatschow wie auch seinen Nachfolger Jelzin fortan für die Totengräber der großen sowjetischen Zukunftsträume.

Bis heute stöhnen viele in Moskau, wenn sie die Worte Perestroika und Demokratie hören. In einer Umfrage vor einigen Jahren nannte jeder Vierte Gorbatschow einen „Vaterlandsverräter“, nur jeweils zwei und fünf Prozent würdigten seine liberalen Reformen als positive Weichen in Russlands Geschichte.

Nach seinem Abschied von der Macht gründete Gorbatschow eine eigene Stiftung - den Gorbatschow-Fonds, für den er Analysen und Gutachten verfasst hat. Der Politpensionär organisierte auch Expertendiskussionen, er schrieb Zeitungsartikel, gab Bücher heraus und hielt – gerne gegen Zahlung von üppigen Honoraren – Reden in der ganzen Welt. Wegen eines Streits mit Kremlchef Boris Jelzin war Gorbatschows Rückkehr in die Politik zunächst unmöglich.

Zu Kremlchef Wladimir Putin hatte er zunächst einen guten Draht

Nach dem misslungenen Versuch, sich 1996 im Alter von 75 Jahren als Präsident wählen zu lassen - er bekam nur 0,52 Prozent der Stimmen - mied Gorbatschow weitgehend die politischen Kämpfe in Russland.

Seine Idee einer einflussreichen sozialdemokratischen Partei zündete nicht. Zum neuen Kremlherrn Wladimir Putin hatte Gorbatschow zunächst noch einen guten Draht. Später kritisierte er allerdings den autoritären Wandel des Landes und warf dem Ex-KGB-Mann Putin offen vor, mit seiner „Geheimdienstclique“ die Macht usurpiert zu haben.

Seine Frau Raissa starb 1999 an Blutkrebs

Der Vater einer Tochter und zweifacher Großvater hatte privat große Schicksalsschläge zu verkraften. 1999 starb in der Universitätsklinik Münster Gorbatschows Frau Raissa an Blutkrebs.

„Ihr Tod ist ein Schatten in meinem Leben, der niemals verschwinden wird. Ich denke jeden Tag an sie“, gestand er in einem Interview ein Jahrzehnt später. Um das Andenken an die erste (und letzte) First Lady der Sowjetunion zu ehren, hatte Gorbatschow eine weitere Stiftung für leukämiekranke Kinder gegründet, die er bis zum Schluss finanziell unterstützt hat.

Für die einen ein Held, für die anderen ein Verräter: Der ehemalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow (Foto von 2018) wird in wenigen Tagen 90 Jahre alt.
Für die einen ein Held, für die anderen nicht: der ehemalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Foto: - picture alliance/dpa/kyodo

Seine Gesundheit hatte sich nach 2010 verschlechtert. Gorbatschow litt lange an Diabetes in einer schweren Form, er musste sich mehrmals operieren lassen. 2013 verpasste er wegen Krankheit das Staatsbegräbnis in London für seine frühere politische Freundin, die britische Ex-Premierministerin Margaret Thatcher. Zwei Jahre später berichteten die Medien sogar, dass der Ex-Präsident „teilweise gelähmt“ sei – was jedoch der Gorbatschow-Fonds dementierte.

Er nahm die teils wilden Spekulationen der Medien über seinen Gesundheitszustand – darunter auch eine falsche Todesnachricht – stets mit bitterem Humor auf. „Schon lange wollen sie mich begraben, aber seht her – ich bin doch quicklebendig“, sagte trotzig den Journalisten der Mann, der die Welt verändert hat.

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