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Ein Junge betrachtet am Computerbildschirm eine Frau in Reizunterwäsche.

Sex-Video-Flut

Teenager der „Generation Porno“ halten Schlagen, Würgen, Drosseln schon für normal

Dass viele Schulkinder auf ihren Smartphones und Computern harte Pornografie konsumieren, ahnen ihre Eltern nicht. Psychologen warnen vor schweren Langzeitfolgen.
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Es gibt ein neuralgisches Thema in der Familie von Matthias K. (48): das Computer-Spiel „Fortnite“. Sohn Leo ist geradezu besessen davon.

Deshalb hat der Vater eine Kontroll-Software installiert. „Leo darf 30 Minuten am Tag Fortnite spielen, und wenn er eine neue App oder eine unbekannte Internet-Seite laden will, muss ich das von meinem Smartphone aus erlauben“, erklärt der BNN-Leser, dessen Name in diesem Text aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes ebenso geändert ist wie die Namen seiner Kinder.

Jäh wird der Vater schon nach kurzer Zeit daran erinnert, dass im Netz noch ganz andere Gefahren lauern als das „Ballerspiel“. Die Kontroll-App „Family Link“ schickt ihm eine Nachricht: „Hallo Matthias, Leo K. möchte, dass du diese Website genehmigst: porno.de.“

Ein Fünftel der Kinder hat mit elf oder zwölf Jahren bereits Pornos gesehen

Beim Gedanken an diesen Moment schüttelt sich Matthias K. unwillkürlich. „Leo war da gerade erst zwölf geworden“, sagt er. Und der jüngere Bruder Tim (9) sitzt oft beim älteren im Zimmer.

Früher Porno-Konsum und die Folgen
Früher Porno-Konsum und die Folgen Foto: BNN-Infografik

Dass sich Sechstklässler Leo für Pornografie-Seiten interessiert, ist keineswegs ungewöhnlich: Mit zehn oder elf Jahren haben bereits 20 Prozent der deutschen Schüler ersten Kontakt zur Porno-Welt – zu diesem Ergebnis kam diesen Sommer eine repräsentative Studie im Auftrag der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen.

Schon Grundschüler klicken ungehindert auf drastische Sex-Videos

Und da heute bereits Grundschüler häufig ein eigenes Smartphone besitzen, schauen sogar Sechsjährige erwachsenen Porno-Darstellern beim Sex zu. Jugendschutz-Sperren? Fehlanzeige.

Es gibt bei kostenlosen großen Plattformen wie „Pornhub“ nur scheinbar eine „Überprüfung des Alters“. Die besteht nur aus zwei Auswahl-Buttons: „Ich bin 18 oder älter“ und „Ich bin unter 18“. Kinder müssen nur auf die erste Fläche klicken – schon sehen sie drastische Bilder: Geschlechtsteile in Nahaufnahme, Gruppensex, erniedrigte Frauen.

Was einem Elfjährigen oder Sechsjährigen durch den Kopf geht, wenn ihm ein Video mit dem Titel „Das Hurenhotel an der Autobahn 6“ eingeblendet wird? Oder wenn er aus Filmkategorien wie „Dreier“, „Dildo“ oder „Mütter“ wählen soll? Welche Langzeitfolgen es haben kann, wenn schon Kinder ständig solche Videos konsumieren – das schilderte US-Popstar Billie Eilish offen in einem Interview mit Radiomoderator Howard Stern.

Die ersten paar Male, die ich Sex hatte, habe ich nicht Nein gesagt zu Dingen, die nicht gut waren. 
Billie Eilish
US-Popstar über Folgen frühen Porno-Konsums

Sie habe schon mit etwa elf Jahren angefangen, Pornos zu schauen und zeitweise eine regelrechte Sucht nach Gewaltszenen entwickelt, bekannte die heute 21-Jährige. „Die ersten paar Male, die ich Sex hatte, habe ich nicht Nein gesagt zu Dingen, die nicht gut waren. Es war, weil ich dachte, genau das zieht mich an.“ Mit diesem Problem ist Eilish bei Weitem nicht allein.

Pop-Star Billie Eilish
US-Popstar Billie Eilish berichtete offen über ihre frühe Porno-Sucht und die negativen Folgen für ihr Liebesleben. Foto: Jordan Strauss/Invision/AP/dpa

Therapeutin: Mädchen erdulden aus Angst schmerzhafte und eklige Sex-Praktiken

Die Psychologin, Psychotherapeutin und Autorin Tabea Freitag versucht nachdrücklich, die Gesellschaft hierzulande wachzurütteln. „Nach unserer Erfahrung in Beratung und Prävention lassen viele Mädchen und junge Frauen sich zunehmend auch in Beziehungen auf porno-normierte Praktiken ein, die sie als schmerzhaft, eklig oder entwürdigend erleben“, erklärt sie. „Sie haben Angst, die Beziehung sonst zu verlieren oder als verklemmt und prüde zu gelten.“

Früher Porno-Konsum und die Folgen
Früher Porno-Konsum und die Folgen Foto: BNN-Infografik

Unzählige Studien belegten, dass es einen Zusammenhang zwischen Pornografie-Konsum und einer Zunahme sexueller Gewalt auch unter Minderjährigen und in Paarbeziehungen gebe. Freitag verweist auf den starken Anstieg von Analsex in heterosexuellen Beziehungen – obwohl er für viele Mädchen schmerzhaft sei: „Durch pornografische Vorbilder hat sich auch die Überzeugung vieler Jungen normalisiert, es wäre okay, Mädchen trotz Schmerzen und Widerwillen dazu zu drängen oder zu zwingen.“

Drosseln, Würgen, Schlagen gilt bei vielen Teenagern heute als normal

In Mainstream-Pornos werden Frauen häufig gewürgt und gedrosselt – auch diese Praxis sei inzwischen in Beziehungen eingesickert, sagt die Mitbegründerin von „Return Fachstelle Mediensucht“ in Hannover. Sie zitiert aus einer diesjährigen Studie unter 16- bis 21-Jährigen beiderlei Geschlechts für die britische Regierung: „Fast die Hälfte der Befragten – 47 Prozent – waren der Auffassung, dass Mädchen Gewalt beim Sex, wie etwa Schläge oder Würgen, erwarten. 42 Prozent glaubten sogar, dass Mädchen dies mögen.“

Knapp die Hälfte der jungen Erwachsenen gab auch zu Protokoll, bis zum 18. Lebensjahr selbst schon einmal Gewalt beim Sex erlebt zu haben. Stabile und liebevolle Beziehungen lassen sich so schwerlich aufbauen. Psychologin Freitag stellt in der Praxis fest, dass schon sehr junge Männer infolge des abstumpfenden Porno-Konsums an Lustlosigkeit und Impotenz leiden. Junge Mädchen sähen sich selbst zunehmend oft nur noch als Sexobjekt.

Wenn Kinder ein Jahr früher in Kontakt mit Pornografie kommen, hat dies bereits drastische Auswirkungen.
Tabea Freitag
Psychologin, Psychotherapeutin und Autorin

Und jedes Jahr, in dem Kinder vor Porno-Einflüssen bewahrt bleiben, zähle. „Wenn Kinder ein Jahr früher in Kontakt mit Pornografie kommen, hat dies bereits drastische Auswirkungen“, betont Freitag. 49 Prozent der Befragten, die beim Erstkontakt mit Pornografie noch keine elf Jahre alt waren, suchten später aktiv nach Gewalt-Pornografie – bei denjenigen, die im Alter von zwölf Jahren erstmals auf Pornos stießen, waren es 30 Prozent.

Dass sich ihre Söhne und Töchter in solchen Abgründen bewegen – davon ahnen viele Eltern nicht das Geringste. Matthias K. spricht nach seinem Aha-Erlebnis zunächst mit seinem Sohn: „Zuerst hat er herumgedruckst, er wisse gar nicht, wo die Porno-Adresse herkam. Schließlich hat er erzählt, der Tipp sei von einem Schulfreund.“

Der Vater stößt auch eine Diskussion im eigenen Freundeskreis an. Mehrere Paare staunen, als sie ihre eigenen Kinder aufs Thema Pornografie ansprechen. „Ja, was glaubst du denn?“, fragt eine 17-jährige Gymnasiastin ihre Mutter. „Die Jungs in unserer Klasse gucken alle Pornos, alle. Und zwar regelmäßig.“

Das Problem wird von Elternseite vollkommen unterschätzt.
Anke Hofmann
Leiterin der Psychologischen Beratungsstelle Kehl

Wie konnte uns das nur entgehen?, fragen sich die Erwachsenen. „Ich denke, das Problem wird von Elternseite vollkommen unterschätzt“, sagt die Psychologin Anke Hofmann. „Unterm Strich ist da eine große Hilflosigkeit, weil Eltern den Medienkonsum ihrer Kinder spätestens auf dem Schulhof nicht mehr kontrollieren können.“

Als Leiterin der Psychologischen Beratungsstelle des Ortenaukreises in Kehl berät sie Familien, ihr Team bietet Eltern-Kurse zum Thema Internet-Nutzung an. Die Folgen des frühen Porno-Konsums betrachtet auch sie mit Sorge. „Was den Jugendlichen verloren geht, ist ein eigenes Verhältnis zum eigenen Körper und zur eigenen Sexualität“, sagt Hofmann. „Da geht es dann nicht mehr um die Frage: Was will denn ich?“

Muskel-Kult und operierte Körper von Porno-Darstellern erhöhen Druck – auch auf Jungs

Das betrifft auch fragwürdige Vorbilder in puncto Körperkult. Porno-Darsteller, ob Profis oder Amateure, haben oft durchtrainierte Muskelpakete, operativ veränderte Brüste und Genitalien. Solche Trends vermischen sich längst mit der technisch geglätteten Bilderflut auf Social-Media-Kanälen wie Instagram und TikTok.

„Die steigende Anzahl von Schönheits-OPs bei jungen Menschen spiegelt dies wider – der Körper wird an das digitale Ideal angepasst“, sagt Hofmann. „Und das trifft längst auch schon Jungs. Auf ihnen lastet heute ebenfalls ein großer Druck. Sie fragen sich: Wie muss ich aussehen?“

Auf TikTok erzählen Teenager-Mädchen offen davon, dass sie sich im Intimbereich operieren lassen wollten. „Ich hasste meinen Körper. Ich konnte mich einfach selbst nicht akzeptieren“, sagt eine der frühen Porno-Konsumentinnen vor der Video-Kamera.

Zwei 14-Jährige sollen 13-Jährigen vergewaltigt und dabei gefilmt haben

Der zweifache Vater Matthias K. findet auch andere Arten möglicher Nachahmung „erschreckend“: In Polizei-Statistiken tauchen zunehmend auch jugendliche Täter auf – nicht nur beim Verschicken von übergriffigen Sex-Nachrichten oder Pornobildern. Manche fertigen auch selbst pornografisches Material an oder verbreiten Intimfotos anderer Teenager ungefragt im Netz. Eine drastische Gewalttat übersexualisierter Teenager wurde vor wenigen Wochen im niedersächsischen Königslutter bekannt: Zwei 14-jährige Jungen sollen einen 13-jährigen Mitschüler vergewaltigt und alles gefilmt haben.

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