Drei Minuten, die maximal zu Herzen gehen und am Ende die meisten Punkte holen. Das Ziel aller Komponisten, Textdichter und Songwriter beim Eurovision Song Contest (ESC), früher Grand Prix Eurovision de la Chanson, macht die Musik so eingängig und prägnant.
Der seit 1956 veranstaltete und weltweit größte Musikwettbewerb hat das Zeug zur Masseneuphorie für Fans und mindestens zur Neugier einer sehr breiten Masse. Nur wenige TV-Ereignisse versammeln vergleichbar viele Menschen zu ein und derselben Uhrzeit vor ihren Bildschirmen.
Der ESC mit jährlich über 180 Millionen Zuschauern kann aber noch mehr: Er vereint für ein paar Stunden die Völker, hebt die Stimmung und bringt etwas in die Wohnzimmer, das Nicole mit 17 Jahren an der Gitarre vor 40 Jahren zur Gewinnerin machte: ein bisschen Frieden.
Sehnsucht nach Frieden ist aktueller denn je
Und dazu Partystimmung? Während die Bomben in der Ukraine fallen, dürfte die große Show im Turiner PalaOlimpico, die Italien als Gastgeberland vorbereitet, diesmal zur Gratwanderung werden.
Die Sehnsucht nach Frieden, die Komponist Ralph Siegel 1982 mit seinem Song für Nicole in lieblichem Schwung vertonte, ist 40 Jahre später bedauerlich aktuell und zwingend.
Der Krieg ist auf dem Kontinent, wenn der ESC 2022 in Italien ausgetragen wird. Da prallen Gegensätze im Befinden aufeinander, die schon dem bislang erfolgreichsten Lobgesang der Friedensbewegung seine Gänsehautmomente bescherten: romantische Rührseligkeit und Weltuntergangsstimmung.
Emotionales Voll-Karacho auf der Bühne
Auch diesmal ist emotionales Voll-Karacho für Ohren und Augen auf der Bühne zu erwarten. Das Motto in Turin lautet schließlich „The Sound of Beauty“, der Klang der Schönheit. Die Songs versprechen viel sexy Hüftschwung, Blingbling und auch wieder eine gewisse Albernheit. Also alles, was den ESC seit Jahrzehnten ausmacht.
Wird diesmal eine Welle der Solidarität über die Show rollen, um die übliche ESC-Partystimmung in Zeiten des Krieges angemessen einzufangen? Songtexte, Ansprachen und Gesten mit einer politischen Natur sind ebenso wie Werbung verboten.
Man muss aber kein Buchmacher in den Wettbüros sein, um die Prognose zu wagen, dass sich die Fans bei der Abstimmung mit der Ukraine solidarisieren dürften. Nicht nur wegen des Krieges: Auch musikalisch hat das Kalush Orchestra mit dem folkloristisch angehauchten Electro-Pop-Song „Stefania“ gute Chancen in einem erneut stilistisch erstaunlich weiten Feld an Beiträgen.
Ukraine hat ESC 2016 gewonnen
Schon einmal, 2016, hat die Ukraine beim ESC gewonnen – in einer politischen Grauzone: Die Sängerin Jamala machte gar kein Geheimnis daraus, dass ihr Song „1944“ eine politische Botschaft hat.
„Ich singe für die ganze Ukraine, für die Krim. Ich möchte, dass mein Leid ein Tropfen in dem Ozean wird und hilft, die Probleme der Ukraine und der Krimtataren zu lösen“, sagte sie damals.
Aus Russland kam Protest, das Lied „1944“ zuzulassen. Weil Jamala darin aber „nur“ die Geschichte ihrer Urgroßeltern erzählte, die unter Stalin 1944 von der Krim nach Zentralasien deportiert worden sind, sahen die Prüfer der Europäischen Rundfunkunion (EBU) in Genf keinen Regelverstoß.
Erstes Halbfinale am 10. Mai
Europa wie es singt, lacht und weint: Die Songs selbst waren schon geschrieben, als Russland die Ukraine angriff. Entsprechend wenig haben die Texte mit dem Krieg zu tun.
Es geht um toxische Beziehungen (Nordmazedonien), psychische Probleme (Niederlande), Schüchternheit (Australien), Lebenslust (San Marino), um gleichgeschlechtliche Liebe (Italien), Quatsch (Norwegen) und Gefühle, Gefühle, Gefühle. Nur die Ukraine ahnte wohl, was kommen wird, in dem Song heißt es: „Ich werde immer zu dir kommen, auch wenn alle Straßen zerstört sind.“
Los geht es an diesem Dienstag (10. Mai) mit dem ersten Halbfinale, in dem sich etwa die Ukraine zunächst mit neun anderen Ländern qualifizieren muss. Im zweiten Halbfinale am Donnerstag (12. Mai) können sich zehn weitere Bewerber in das Finale mit 25 Ländern am Samstag (14. Mai) singen.
Ob die sonst so treffsicheren Buchmacher Recht behalten mit ihrer Prognose vom Sieg des Beitrags aus der Ukraine? Wie die ESC-Website zeigt, sehen die Fans das anders: Nach den Songchecks buhlen die Niederlande mit der aparten Sängerin S10 und der Vorjahressieger Italien diesmal mit dem Duo Mahmood & Blanco um den ersten Platz.
Und auch eine Hommage an Freddy Mercury und David Bowie von Sam Ryder aus England sowie fetziger Techno-Pop von Lum!x und Pia Maria aus Österreich liegen noch vor der Ukraine. Die Punktevergabe verteilt sich nur zur Hälfte auf das Publikum. Die andere Hälfte entscheiden die Jurys. Dem deutschen Beitrag „Rockstars“ von Malik Harris räumen die Buchmacher und ESC-Fans kaum Chancen ein.