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Meinung

von Eckart Altenmüller

Gastbeitrag von Eckart Altenmüller

„Singen gehört zum Menschsein“: Über ein hohes Gut für die Gesundheit

Der Musikmediziner Eckart Altenmüller betont die Bedeutung des Musizierens für Kinder und Jugendliche. Politik und Eltern sieht er in der Pflicht.

Porträt Prof. Dr. med. Dipl. mus. Eckart Altenmüller
Eckart Altenmüller ist Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Er ist ausgebildet als Neurologe und Flötist und befasst sich mit den hirnphysiologischen Grundlagen des Musizierens und der Musikwahrnehmung und der emotionalen Verarbeitung von Musik. Foto: HMTM Hannover

Musik hören und Musik machen ist ein wichtiger Teil unseres Lebens. Freude an Musik und musikalische Fertigkeiten wie Tonhöhenunterscheidung und Rhythmusfähigkeit sind in unserem Erbgut angelegt und begleiten uns seit Hunderttausenden Jahren. Musikalisches Lernen beginnt bereits in der 28. Schwangerschaftswoche im Mutterleib.

Musikalische Aktivitäten begleiten uns von frühester Kindheit an und sind wichtiger Teil unserer Alltagskultur. Wiegenlieder festigen die Bindung von Eltern und Säuglingen, reduzieren kindlichen Stress und erleichtern dem Baby die Selbstregulation seiner Emotionen. Singen und Musizieren verbessern den Spracherwerb und unterstützen die Ausbildung des auditiven Gedächtnisses. Handlungssteuerung, Aufmerksamkeitslenkung und geistige Ausdauer werden positiv beeinflusst.

Singen gehört zum Menschsein

Singen und Musizieren macht Kindern große Freude: Sie hören sich selbst, sie werden gehört, sie werden akzeptiert, sie erwerben Fertigkeiten, sie lernen spielerisch Körperbeherrschung und Gruppenzusammenhalt. Diese wichtigen Erfahrungen von Selbstwirksamkeit erhöhen das Selbstvertrauen, verbessern Stimmung, Stress-Resilienz und Sozialverhalten.

Gesang verstummt: Warum Familien heute weniger singen

Nicht umsonst gehören Singen, Tanzen, Musik- und Bewegungsspiele weltweit zum Repertoire einer kindgerechten Pädagogik, und waren früher auch in den deutschen Familien selbstverständlich. Das Verstummen vieler Eltern, die Scheu, mit den Kindern zu singen, haben mit dem Abbruch von Traditionen zu tun, mit veränderten Familienstrukturen und mit einem erhöhtem Effizienzdruck, dem sich viele junge Familien ausgesetzt sehen.

Nun könnten diese Aufgaben zwar in den Kitas und Schulen teilweise übernommen werden, aber leider fehlen in Deutschland allein an Grundschulen derzeit 23.000 Musiklehrerinnen und Musiklehrer. Zunehmend verlagert sich daher die musikalische Aufbauarbeit aus dem schulischen Bereich in andere Einrichtungen. Hier leisten beispielsweise Kinder- und Jugendchöre großartige, unverzichtbare Arbeit.

Singen und Musizieren wirken sich positiv auf das kindliche Nervensystem aus

Singen und Musizieren führen zu Veränderungen des zentralen Nervensystems, die Ausdruck der lebenslang bestehenden Neuroplastizität sind. Neuroplastizität ist die Anpassung der Strukturen und Funktionen des zentralen Nervensystems an Spezialaufgaben.

Voraussetzungen für diese Anpassungen sind, dass die Aufgaben komplex sind, dass ihre Bewältigung schrittweise verfeinert werden kann, dass sie über einen längeren Zeitraum – mindestens mehrere Monate – aufmerksam durchgeführt werden, und dass sie einen selbstbelohnenden, motivierenden Charakter haben. All das trifft auf das Singen und Musizieren zu.

Bislang gibt es zwar keine Studien zu den Gehirnveränderungen bei singenden Kindern, aber übertragbare Studien beim Erlernen eines Instruments existieren. Sechsjährige Kinder entwickelten während 18 Monaten Klavierunterricht größere Hörzentren und Bewegungszentren der Großhirnrinde, vor allem auf der rechten Hirnhälfte. Entsprechend besaßen sie im Vergleich zu einer Kontrollgruppe bessere Tonhöhen- und Rhythmuswahrnehmung und überlegene feinmotorische Fertigkeiten.

 Im Gehirn ist mehr Informationsaustausch mit einer höheren Geschwindigkeit möglich.
Eckart Altenmüller 
Musikmediziner 

In einer anderen Studie waren bei Kindern nach Instrumentalunterricht die Nervenfaser-Verbindungen zwischen beiden Hirnhälften und zwischen den Hör-Regionen und den Sprachregionen dicker, das heißt, dass im Gehirn mehr Informationsaustausch mit einer höheren Geschwindigkeit möglich war.

Harmonie im Gehirn: Wenn Musik und Gesang die Seele streicheln

Diese neuroplastischen Anpassungen werden durch die Ausschüttung von Neurohormonen beim Singen und Musizieren begünstigt: Gute Stimmung erzeugt Serotonin, die Motivation und das beglückende Musikerlebnis führen zur Freisetzung des Belohnungshormons Dopamin und des Glückshormons Endorphin und das Zusammengehörigkeitsgefühl und Vertrauen beim gemeinsamen Singen und Musizieren reduzieren Stress und begünstigen die Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin.

Den Zugang zu dieser Welt müssen Kinder und Jugendliche erlernen.
Eckart Altenmüller
Musikmediziner

Musizieren und Singen gehören meines Erachtens notwendig zum Bildungskanon von Kindern und Jugendlichen. Ich halte es für eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, Kindern diese wunderbaren, oft prägenden Erfahrungen zu ermöglichen. Dazu gehört auch, dass wir für das Singen in Familien, Kitas, Kindergärten eintreten, Musikprojekte in Schulen, Kirchen, Vereinen unterstützen und auch die zahlreichen informellen Musikangebote für Jugendliche fördern.

Musik wird es immer geben. Das menschliche Bedürfnis, Emotionen und Existenzfragen mit Klängen kreativ auszudrücken, ist in Zeit und Raum universell. Aber den Zugang zu dieser Welt, das Sesam-öffne-Dich zu Glück, Trauer, Beunruhigung und Sinn müssen Kinder und Jugendliche erlernen! Lassen Sie uns alle dazu beitragen.

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