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Europa im Krieg

Estlands Premierministerin Kallas: „Wir dürfen nicht kriegsmüde werden“

Kaja Kallas fordert EU-Perspektiven für die Ukraine und Moldau – und schon heute Pläne für ein Tribunal für russische Kriegsverbrechen.

Kaja Kallas
Nach 50 Jahren unter der Sowjetherrschaft kennen sich die Esten mit Denkweisen im Kreml sehr gut aus. Ihre Regierungschefin Kaja Kallas ruft die Europäer unermüdlich dazu auf, sich dem aggressiven Expansionskurs Russlands geschlossen entgegenzustellen. Foto: Alexei Makartsev

Es sind turbulente Tage für Estlands Premierministerin Kaja Kallas (46). Einerseits kümmert sie sich um die Folgen und die Aufarbeitung des mutmaßlichen Anschlags auf eine Gas-Pipeline zwischen Finnland und Estland. Andererseits hat sie gerade erst eine unpopuläre Steuererhöhung durchgeboxt. Das zusätzliche Geld will die Premierministerin in die Verteidigung stecken.

Kallas war schon lange vor Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine mit ihren eindringlichen Warnungen vor Moskaus Machtgelüsten international bekannt geworden. Die frühere Rechtsanwältin hat seit 2011 eine steile politische Karriere gemacht. Sie leitet seit 2021 Estlands Regierung – als erste Frau in diesem Amt. Ihr Vater Siim Kallas gehörte zu den Gründern der Estnischen Reformpartei (RE) und war später estnischer Außen- und Finanzminister sowie Regierungschef.

Estland hat sich früh auf Unterstützung der Ukraine festgelegt

Nach der Wahl im März 2023 begann Kallas’ zweite Amtszeit, die durch die angespannte sicherheitspolitische Situation in Europa stark geprägt ist. Die RE-Anführerin hat sich früh auf eine tatkräftige militärische Unterstützung der Ukraine festgelegt und schwere Waffen nach Kiew liefern lassen. Über all dies sprach Kallas in Tallinn am Donnerstag mit deutschen Medienvertretern, darunter unser Redakteur Alexei Makartsev.

Es fließt zurzeit kein Gas zwischen Estland und Finnland, die Pipeline Balticconnector und das Datenkabel sind beschädigt. War da Sabotage im Spiel?
Kaja Kallas
Finnland untersucht diesen Vorfall in seinen Territorialgewässern. Wir sind die führende Kraft hinter den Ermittlungen nach der Beschädigung der Datenleitung. Als der Gasdruck am Sonntag zu fallen begann, gab es einen schweren Sturm, was die Untersuchungen erschwert hat. Wir wissen heute, dass es keine natürliche Ursache für den Vorfall gab. Da stecken Menschen dahinter, und die Frage ist nun, ob der Schaden absichtlich verursacht wurde oder nicht. Wichtig ist, dass unsere Gasversorgung nicht gefährdet ist, weil wir für solche Fälle seit dem Kriegsbeginn Vorbereitungen getroffen haben. Die Gasspeicher in Lettland sind voll. Es lässt sich schwer sagen, was unter Wasser passiert. Darum müssen wir diesen Vorfall schnell untersuchen und uns damit beschäftigen, wie unsere kritische Infrastruktur besser geschützt werden kann.
Wenn es eine Fremdeinwirkung an der Pipeline gab, könnte Russland dahinterstecken?
Kaja Kallas
Ich würde mich aufs Glatteis begeben, wenn ich darüber spekuliere. Wir haben natürlich unsere Erfahrungen mit dem russischen Staat gemacht. Als es 2007 einen Cyberangriff auf Estland gab, konnten wir die Spur nach Russland zurückverfolgen. Aber ich würde jetzt gerne das Ergebnis der Ermittlungen abwarten, dann können wir weitere Schritte unternehmen.
Der Krieg in Israel macht weltweit Schlagzeilen, außerdem rückt die US-Wahl näher. Sind sie besorgt darüber, dass deswegen die internationale Unterstützung der Ukraine bei ihrem Kampf gegen Russland schwinden könnte?
Kaja Kallas
Auf der jüngsten politischen Tagung in Granada sagte der ukrainische Präsident Selenskyj, dass er sich deswegen keine Sorgen mache – also sollten wir es auch nicht tun. Es ist furchtbar, was in Israel und in Gaza passiert, natürlich schauen alle dorthin. Außerdem haben unsere Demokratien eigene Probleme. Aber wir dürfen nicht kriegsmüde werden, weil genau das zum Kalkül Russlands gehört. Ein Geheimdienstoffizier sagte mir mal: „Der Krieg ist wie eine Operation ohne Betäubung.“ Russland glaubt, den Schmerz länger aushalten zu können als wir. Am Anfang war sich Putin sicher, dass unsere Geschlossenheit zerbröselt, wie es nach der Annexion der Krim 2014 binnen Monaten geschehen ist. Dass es diesmal nicht passiert ist, dass unsere Einigkeit so lange so stark bleibt, war eine unangenehme Überraschung für den Kreml. Ich denke, wir sollten Putin weiterhin negativ überraschen, indem wir die Ukraine aktiv unterstützen.
Estland will drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgeben und dafür die Steuern erhöhen. Könnte das die öffentliche Unterstützung der Ukraine in Ihrem Land schwächen?
Kaja Kallas
Nun ja, Steuererhöhungen sind nicht gerade beliebt. Aber wir müssen diesen Weg beschreiten, und ich habe meinen Landsleuten gesagt, dass für uns ohne die Sicherheit nichts geht. Natürlich würde ich das Geld auch gerne für viele andere Sachen ausgeben. Aber in der jetzigen Situation, wenn man sieht, was in Bergkarabach, in Israel und in der Ukraine passiert, können wir nicht anders als unsere Verteidigungsausgaben und unsere Bereitschaft zur Verteidigung zu erhöhen, damit uns nicht das gleiche Schicksal ereilt wie die armen Menschen in diesen Ländern. Ich weiß, dass es hart ist, aber die Unterstützung für diesen Kurs ist in Estland hoch. 
Tun Deutschland und andere Nato-Staaten genug für ihre eigene Verteidigungsbereitschaft?
Kaja Kallas
Ich habe bei Nato-Treffen darüber gesprochen, dass wir in unsere Rüstungswirtschaften kräftig investieren sollten. Wissen Sie, 1988 hat jedes Mitglied der Allianz zwei Prozent seines BIP für Verteidigung ausgegeben, weil Kalter Krieg herrschte und die Gefahr sehr real war. Jetzt wird im Schnitt 1,6 Prozent ausgegeben. Das überrascht mich sehr, weil es in Europa in der Nähe konventionellen Krieg gibt. Er ist von Berlin nur etwa 1.330 Kilometer entfernt, wie für uns auch. Ich weiß, dass die Menschen erschöpft sind nach all diesen Krisen. Sie haben in kurzer Zeit Corona, Energiekrise, Inflation, wirtschaftlichen Abschwung und den Krieg erlebt. Sie sehnen sich nach dem schönen Leben zurück. Aber wir müssen in dieser Situation mehr Geld für Verteidigung ausgeben, auch wenn das sehr, sehr hart ist. 
Die Ukraine und Moldau möchten EU-Mitglieder werden, Ihr Land unterstützt diesen Wunsch. Gilt das auch für andere Mitgliedsstaaten, die viel Geld von Brüssel erhalten und es mit neuen Mitgliedern teilen müssten?
Kaja Kallas
Wenn wir die Beitrittsthematik nur auf finanzielle Fragen verengen, handeln wir nicht im Einklang mit unseren gemeinsamen Werten. Wie in jedem Club gibt es einen Mitgliedsbeitrag, dafür erhalten unsere Firmen einen Zugang zu einem Markt mit 500 Millionen Menschen. Estland geht es heute besser als früher: Unser BIP betrug zum Zeitpunkt des Beitritts 48 Prozent des EU-Durchschnitts, heute macht es 83 Prozent aus. Das Zusammenwachsen funktioniert also gut, und der Beitritt der neuen Mitglieder wird es noch weiter fördern. Es ist in unserem gemeinsamen Interesse, dass sie die Korruption bekämpfen. Außerdem werden wir gemeinsam wettbewerbsfähiger. Nicht zuletzt sollten wir uns an unsere Versprechen halten, wenn diese Länder alle Beitrittskriterien erfüllt haben. Entweder man legt sich darauf fest, dass der Beitritt ein technischer Prozess ist, und die Erfüllung der Kriterien bestimmte Folgen hat – oder wir machen den Kandidaten von Anfang an klar, dass wir uns aus politischen Gründen trotzdem anders entscheiden könnten. Das wäre aber ein schlechtes Zeichen für die Menschen in diesen Ländern, die sich dann fragen würden, warum sie die schwierigen Reformen überhaupt anpacken sollen.
Man kann sich seinen Nachbarn nicht aussuchen, das bereitet Ihrem Land Probleme. Sehen Sie einen Weg für Russland, um ein guter Nachbar und Partner für die Europäer zu werden – und was müsste dafür geschehen?
Kaja Kallas
Ich habe viel über russische Geschichte gelesen, um zu verstehen, wie wir diesen historischen Zyklus der russischen Angriffe auf die Nachbarländer endlich durchbrechen könnten. In meinen Augen muss es um die Verantwortung gehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Verantwortlichen für die Nazi-Verbrechen vor Tribunale in Nürnberg und Tokio gestellt. Aber es gab nie ein Tribunal für Moskau für all die Verbrechen, die hier begangen worden sind. Durch das Nürnberg-Tribunal haben die Deutschen von den abscheulichen Taten der Nazis erfahren. Die Russen dagegen wissen nichts über ihre Kriegsverbrechen in Estland und in der Ukraine. Ich finde es besonders interessant, dass die ersten Diskussionen über Nürnberger Prozesse bereits 1942 begannen, lange vor dem Kriegsende…
…das heißt, wir müssten schon heute ein Tribunal für russische Verbrechen in der Ukraine planen?
Kaja Kallas
Genau. Denn wenn der Krieg vorbei ist, wird sich damit niemand beschäftigen wollen. Wir müssen erstens die Menschen zur Verantwortung ziehen, die diesen Krieg begonnen haben, und zweitens das internationale Recht so weiterentwickeln, dass alle künftigen Kriegstreiber zur Rechenschaft gezogen werden. Ich habe viel darüber nachgedacht, was Krieg für Länder wie Russland bedeutet. Die Menschen dort unterstützen ihn, weil es ihnen um den Ruhm geht. Für kleine Länder wie unseres bedeuten Kriege dagegen immer Leid und Zerstörung. Darum kann nur eine Rechenschaftspflicht etwas verändern.
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