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Meinung

von Klaus Michael Baur

Plädoyer für Bräuche

Zum Weihnachtsfest: Der Mann in Rot lebt

Ja, es gibt den Weihnachtsmann – und zwar überall, wo die Freiheit im Denken den Realo besiegt. Ein Plädoyer von BNN-Chefredakteur und Verleger Klaus Michael Baur für Bräuche, ohne die das Weihnachtsfest nur halb so schön wäre.

Ein Mann im Weihnachtsmann-Kostüm und ein Bahnmitarbeiter mit Weihnachtsmütze unterhalten sich zur Hauptreisezeit vor Weihnachten am Hauptbahnhof zwischen Reisenden.
Der Weihnachtsmann ist real-existent – wo der Trip ins Märchenland auch im Erwachsenenalter möglich ist. Lassen wir ihn hochleben! Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Kein Leitartikel ist so oft nachgedruckt worden, kein Kommentar hat stärker die weltweite Weihnachtsgemeinde bewegt. Der Kolumnist Francis P. Church wäre wohl nie in die Geschichtsbücher eingegangen, hätte er den sorgenvoll-fragenden Brief der kleinen Virginia nicht ernst genommen. „Bitte sagen Sie mir die Wahrheit: Gibt es einen Weihnachtsmann?“, stand da bekanntlich zu lesen. Für die New York Sun und Church war die Antwort klar: „Yes, there is a Santa Claus“.

Das war 1897. Und ist bis heute amtlich. Ja. Es gibt ihn, auch wenn die Wahrnehmungen vom Weihnachtsmann, Christkind, Nikolaus und Knecht Ruprecht in einer globalisierten Zeit zunehmend verschwimmen.

Als amerikanischen Migranten können wir den Gabenbringer mit Rauschebart ohnehin kaum noch begreifen. Schon um 1840 textete Hoffmann von Fallersleben sein „Morgen kommt der Weihnachtsmann“.

Der Weihnachtsmann konkurriert nicht mit dem spirituellen Zauber

Er ist real-existent – wo die Fähigkeit zum Wunderglauben, die Phantasie, das Kindlich-Beschwingte in uns lebt. Wo der Trip ins Märchenland auch im Erwachsenenalter möglich ist. Die Freiheit im Denken, die Poesie, den buchhalterischen Griffelspitzer-Geist und den Realo besiegt. Sicher: Der Weihnachtsmann ist nicht die Lichtgestalt des Christenfests, fast könnte man ihn als religiös-neutral bezeichnen. Mit den wichtigen Weihnachtsbotschaften, dem spirituellen Zauber der Stillen Nacht, will er ja auch gar nicht konkurrieren.

Und zugegeben: Er nervt uns gelegentlich auch ziemlich, wenn er als Kitschfigur für eine braune Limonade durch die Schneelandschaft braust, wenn er als Schoko-Mann in Legionenstärke die Supermarkt-Regale dominiert, wenn er mit blinkendem LED-Pomp den Weg zu Tankstellen oder Kaufhäusern weist.

Wie Knecht Ruprecht, wie der Nikolaus, wie das Christkind – ist der Weihnachtsmann aber eine unzweifelhafte Instanz. Er ist eine Respektperson. Als schenkend-umtriebiger CEO taucht er mit seiner Kapuze auf. Ist immer cool, dynamisch, weil zeitlos. Und es wäre gar nicht schlimm, wenn ihm eines Tages auch mal eine Weihnachtsfrau zur Seite stünde, die dann das Ho Ho Ho vielleicht noch üben müsste.

Wie arm wären wir ohne diese Wundergestalt

Dieses Wesen aber als säkularen Eingriff ins Fest der Christenheit zu betrachten, zielt daneben. Wie arm wären wir, hätte uns diese Wundergestalt nicht mit dem ebenso geschätzten Christkind durch die Kindheit geführt und uns schönste Zeiten beschert – wie den Kindern heute. Jenem Christkind, dem schon Theodor Storm die Ehre erwies. Als Zauberwesen lässt es Storm mit großen Augen aus dem Himmelstor sehen, thronend über den goldenen Lichtlein auf den Tannenspitzen.

Storms Verse lassen noch echte Vorfreude auf den Christtag leben. Hier atmet jedes Wort Weihnachtsglück. Hier pulsiert Freude am einfachen, aber tief empfundenen Fest. Hier regiert noch der Duft von Äpfeln, Nuss und Mandelkern – als wahre Endorphin-Stimulanz.

Natürlich: Wir können in diese Zeit nicht einfach so zurückkehren. Im reinen Festhalten an Ritualen liegt auch nicht der Schlüssel. Hatten wir uns nicht gerade satt erlebt an den erstarrten Übungen des Weihnachtsfestes? Heinrich Böll las uns mit seinem „Nicht nur zur Weihnachtzeit“ die Leviten. Und Loriot zeigte uns, was passiert, wenn die Hoppenstedts verbiestert Heilig Abend feiern.

Lassen wir den Mann in Rot hochleben!

In die Spießer-Weihnacht wollen wir nicht zurück. Aber ein bisschen Biedermeier-Kultur kann ja an den Festtagen nicht schaden. Ebenso wenig wie Heimelig- und Gemütlichkeit im Wichtigsten, was wir haben: in der Familie. Vielleicht gibt es in diesen harten Corona-Zeiten sogar eine Rückbesinnung auf Brauchtumspflege.

Ja, wir brauchen Bräuche. Davon künden neue Plätzchen-Freuden, festliche Tafeln, reich verzierte Tannenbäume und vielfach geschmückte Vorgärten, in denen der Weihnachtsmann sein passendes Revier findet.

Ohne diese kleinen Glücksbringer wäre Weihnachten nur halb so schön, wären wir schnell „vom Skeptizismus in einem skeptischen Zeitalter angekränkelt“, wie es Francis P. Church beschreibt. Lassen wir den Mann in Rot hochleben. Es gibt nur einmal ein Weihnachten 2021.

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