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Ein Märchen übers Elternleben

Hochmut kommt vor dem Zweiten

Wer denkt, dass er nach dem ersten Kind den Dreh als Vater oder Mutter raus hat, wird mit der Geburt des nächsten oft eines Besseren belehrt. Wie das vor sich gehen kann, erzählt die Autorin unserer Kinderkram-Kolumne in Form eines Märchens.

Die Welt ist bunt: Vor allem mit Kindern.
Die Welt ist bunt: Vor allem mit Kindern. Foto: Dolgachov/Fotolia

Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Die hatten sich so lieb, dass sie ein Kind bekamen. Ein Kind, das ihnen vom ersten Moment an nur Freude bereitete. Es trank fleißig, schrie nicht, schlief gut, ließ sich problemlos ablegen und machte keine Anstalten, ihnen das Leben schwerzumachen. „Unser Anfängerkind“ nannten es die Eltern, denn es war, als wäre es geschaffen für Mamas und Papas, die diese Rolle zum ersten Mal ausfüllten.

Doch nicht alle waren so begeistert über das Anfängerkind: Wie Pfeile bohrten sich die Blicke anderer Mamas und Papas in die Haut der Eltern, wenn sie erzählten, dass das Anfängerkind mit zwei Monaten in der Nacht nun nicht mehr nur acht, sondern zehn Stunden am Stück schlief. Und wie Messerstiche trafen sie die bösen Kommentare, wenn beim gemeinsamen Restaurantbesuch das Anfängerkind lachend im Hochstuhl saß, während sich die anderen Eltern damit abwechselten, ihren schreienden Säugling zwischen genervten Restaurantgästen spazieren zu tragen.

Werdet nicht übermütig

„Werdet nicht übermütig, alle Kinder sind verschieden!“, warnte eines Abends die weise Großmutter den Mann und die Frau. Doch es half nichts: Nach und nach begannen die beiden zu glauben, dass es ihr Verdienst war, Eltern eines Anfängerkindes zu sein. „Vielleicht sind wir einfach entspannter als andere“, sagte die Frau zum Mann. „Das glaube ich auch“, antwortete er. Nach und nach wurden die beiden mit ihren Urteilen immer wagemutiger: „Wer sein Kind bei jedem Mucks hochhebt, muss sich nicht wundern, wenn es immer wieder danach verlangt“, sagten sie. Oder: „Wenn man  konsequent bleibt, schläft ein Baby problemlos im eigenen Bett.“

„Ich warne euch, werdet nicht überheblich, Kinder sind verschieden“, sprach die Großmutter wieder auf sie ein, doch sie hörten nicht, waren sie doch überzeugt, den Schlüssel zur guten Erziehung gefunden zu haben. Zwei Frühlinge gingen ins Land und die Frau war wieder guter Hoffnung und gebar bald darauf ein zweites Kind. Doch welch Schreck! Dieses Baby war kein Anfängerkind. Im Gegenteil: Es trank nicht, schrie nur, ließ sich ausschließlich unter Protest ablegen, schlief nicht und versuchte alles, um seinen Eltern das Leben schwer zu machen.

Hatte der Vater zuvor Eltern ausgelacht, die ihre Babys mit im Bett schlafen ließen, so hatte er nun jede Nacht ein kahles, kleines Köpfchen zwischen sich und seiner Frau liegen. Und war die Mutter bis dahin noch eine stolze Verfechterin der These gewesen, dass jedes Kind mit etwas Disziplin gut schlafen kann, so wandelte sie jetzt nächtelang mit ihrem Zweitgeborenen auf dem Arm umher. Bald hatten der Mann und die Frau ebenso dunkle Rändern um die Augen wie andere Eltern. Diese wiederum konnten sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen, denn nun hatten auch der Mann und die Frau die harte Lektion gelernt: Kinder sind verschieden.

(Dieses Märchen ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Kolumnen-Autorinnen sind rein zufällig.)

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