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Der Obdachlose Arkadius spricht am Karlsruher Werderplatz über seinen gesellschaftlichen Absturz.

Mehr Fälle in Baden-Württemberg

„Ich habe immer zu viel getrunken“: Arkadius aus Karlsruhe spricht über Obdachlosigkeit

Obdachlose bekommen nur Aufmerksamkeit, wenn es richtig heiß oder richtig kalt ist. Dabei nimmt ihre Zahl in Baden-Württemberg zu. Arkadius und Waltraud aus Karlsruhe sprechen über ihr Schicksal.
von Anika von Greve-Dierfeld
4 Minuten
von Anika von Greve-Dierfeld
4 Minuten

Arkadius weint. Der 40 Jahre alte Mann mit dem verquollenen Gesicht hat eine große, verkrustete Wunde auf dem Nasenrücken und erzählt bruchstückhaft sein Leben: Glaser sei er gewesen, an elektrischen Freileitungen habe er gearbeitet und 15 Jahre Selbstständigkeit hinter sich.

Dann der Absturz. „Ich habe immer zu viel getrunken“, sagt er. Warum er so tief fiel, bekommt man nicht aus ihm heraus. Nur dass er längst in Karlsruhe auf der Straße lebt, schwer alkoholabhängig ist. Und furchtbar traurig. Wenn sich ihm ein Mensch auch nur für fünf Minuten zuwendet, laufen ihm die Tränen über die Wangen.

Wir kennen viele solcher Schicksale.
Daniel Müller
Obdachlosenhilfe Bretten

„Wir kennen viele solcher Schicksale“, sagt Daniel Müller. „Frau weg, Kinder weg, Haus weg, und dann landen sie da, wo sie jetzt sind.“

Der 47-Jährige aus Bretten hat mit seiner Frau Silke vor rund einem Jahr den Verein „Herzensprojekt Obdachlosen- und Bedürftigenhilfe“ ins Leben gerufen.

Seitdem fahren die beiden mit freiwilligen Helfern Samstag für Samstag nach Karlsruhe und einmal im Monat auch nach Pforzheim, um obdachlose oder sonst bedürftige Menschen zu versorgen.

Sie kochen zuhause riesige Mengen an Essen, holen Kuchen von Helfern ab, packen Kleidung und Iso-Matten ein und fahren alles mit Kleinbus und Anhänger zu den Menschen hin.

Menschen warten auf dem Karlsruher Werderplatz auf Essen

Die haben sich am Werderplatz und später am Friedrichsplatz in Karlsruhe schon versammelt und warten auf das warme Essen. Es gibt Nudel-Wurstgulasch, als Nachtisch Linzertorte, Biskuitrolle, Muffins, Schokoküsse.

Warmen Kaffee sowieso. Die 66-jährige Waltraud klammert sich an ihr Essen, nein, obdachlos sei sie nicht, betont sie fast ein wenig zu sehr.

Die Bedürftige Waltraud nimmt beim Werderplatz an einer Essenausgabe des „Herzensprojekt Obdachlosen- und Bedürftigenhilfe Bretten“ teil.
Die Bedürftige Waltraud zieht von Unterkunft zu Unterkunft. Foto: Uli Deck/dpa

Stattdessen ziehe sie von Unterkunft zu Unterkunft. Kontakt zu ihrer Tochter hat sie nur ab und an. „Wenn die wüsste, wie ich lebe, würde sie nie wieder mit mir reden“, sagt sie leise. „Mir graut vor der kalten Jahreszeit, mir graut vor Weihnachten.“

Sie spricht nicht gerne über sich, nur hastig von Gewalt in ihrer Ehe, von einstiger Arbeit bei der Polizei. Ihre Biografie ist voller Schlaglöcher, wie die der meisten hier.

Städte in Baden-Württemberg melden teils höhere Zahlen obdachloser oder von Obdachlosigkeit bedrohter Menschen. „Auch in Freiburg ist Straßenobdachlosigkeit sichtbarer als zuvor“, sagt ein Stadtsprecher. Im Winter 2021/22 zählte das Sozialamt 101 Menschen auf der Straße, im Winter darauf 116.

Die Jahre davor seien es nur 70 bis 90 Personen gewesen. Kältebusse fahren seit dem Winter 2021 herum und versorgen die Menschen mit heißen Getränken, Schlafsäcken, Kleidern. Auch steige die Zahl der EU-Migranten seit Jahren an, abzulesen unter anderem am erhöhten Bedarf in der Notübernachtung.

Für Pforzheim berichtet ein Stadtsprecher ebenfalls von einer deutlichen Zunahme Obdachloser: Ende 2022 seien noch 417 Personen in städtischen Obdachlosenunterkünften untergebracht gewesen – im Laufe des Oktobers 2023 waren es bereits rund 470 Personen, sagt er.

Verlust der Wohnung droht: mehr Fälle in Baden-Baden

Baden-Baden beobachtet seit mehreren Jahren eine Zunahme von Fällen, wo der Verlust der Wohnung droht. Dank zahlreicher Hilfsangebote können man die Zahl von Menschen ohne Wohnung oder Obdach aber relativ konstant halten.

So sorgte etwa das Diakonie-Projekt „Unterstützung vor Obdachlosigkeit“ dafür, dass von 42 darin betreuten Personen 32 in eine eigene Wohnung oder ein WG-Zimmer vermittelt werden konnten.

Wir müssen davon ausgehen, dass der extrem angespannte Wohnungsmarkt dazu führt, dass mehr Menschen wohnungslos sind/werden.
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe

„Wir müssen davon ausgehen, dass der extrem angespannte Wohnungsmarkt dazu führt, dass mehr Menschen wohnungslos sind/werden“, erläutert dazu die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW). Um wie viele Menschen es gehe, sei schwer zu beurteilen, da sie in der Regel verdeckt wohnungslos seien.

Also wie Waltraud bei Freunden oder Bekannten unterkommen. „Kündigungen, Mietschulden, Erkrankungen oder häusliche Gewalt sind wichtige Gründe und Auslöser von Wohnungslosigkeit“, sagte eine BAWG-Sprecherin.

Baden-Württemberg, als relativ reiches Bundesland, unternehme große Anstrengungen, um Menschen in schwierigen Lebenslagen zu unterstützen, lobt sie.

Das Ehepaar Müller sieht das etwas anders. Sie finden, dass die Politik obdachlose Menschen nicht genug auf dem Schirm hat. Zu ihren Essen kämen Menschen, die sich nicht bei der Tafel anstellen würden, die durch das Raster der Sozialsysteme fielen, die schon an der Bürokratie scheiterten, wenn sie sich Hilfe holen wollen.

Aus Sicht des Städtetags sind die Städte jedoch gut gerüstet, die Menschen in geeigneten Einrichtungen übergangsweise unterzubringen, wie ein Sprecher sagt.

Daniel und Silke Müller geben am Werderplatz in Karlsruhe Essen an Obdachlose und Bedürftige aus.
Daniel und Silke Müller geben am Werderplatz in Karlsruhe Essen an Obdachlose und Bedürftige aus. Foto: Uli Deck/dpa

In Baden-Württemberg lebten nach Angaben des Sozialministeriums rund 76.500 wohnungslose Menschen (Stand Januar 2023). Fast ein Drittel davon sei dabei unter 18 Jahre alt gewesen (31,8 Prozent).

„Insbesondere Kinder und Jugendliche können häufig nicht mehr wie gewohnt am gesellschaftlichen Leben teilhaben, wenn ihre Familie wohnungslos wird oder davon bedroht ist“, sagt ein Sprecher.

Dreifache Mutter lebt in Karlsruhe auf der Straße

In Karlsruhe lebt eine Mutter von drei Kindern auf der Straße, ein Kind sei ihr schon weggenommen worden, erzählt Müller. Man begegnet ihr und ihrem nicht mal 14 Jahre alten Sohn in Gebäudearkaden in der Innenstadt.

Der großgewachsene Marlon geht nicht zur Schule, Müller bringt ihm einen kuscheligen Pullover und einen Anorak. Noch raucht er nicht, noch trinkt er nicht.

Auf der Straße ist er mit Erfahrungen konfrontiert, die für ein Kind sicher keineswegs geeignet sind, sagt eine Helferin der Obdachlosenhilfe Bretten. „Aber ihn der Mutter wegnehmen?“, fragt Silke Müller. Schwierig.

Marlon isst zwei Teller Nudel-Wurstgulasch. In eine große Tupperschüssel bekommt seine Mutter dann alles abgefüllt, was an diesem Tag an Essen übrig bleibt. Unter freiem Himmel leben, das ist nicht frei, sagt Daniel Müller. Dann packen die Helfer zusammen.

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