Skip to main content

Zwei Leben im Krieg

Journalistin mit Zeichenstift: Karlsruherin Nora Krug dokumentiert den Kriegsalltag in der Ukraine

In „Heimat“ hat sich Nora Krug mit der Rolle ihrer Familie im Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt. In ihrem neuen Buch wendet sie sich der russischen Invasion in der Ukraine zu. Mit ungewöhnlichen Mitteln.

Die Illustratorin Nora Krug, die in Karlsruhe geboren wurde und aufgewachsen ist.
Die Illustratorin Nora Krug ist in Karlsruhe geboren. Sie lebt mit ihrer Familie in Brooklyn. Ihr neuestes Buch „Im Krieg“ erscheint jetzt auch auf Deutsch. Foto: Nina Subin

Als die ersten russischen Bomben auf Kiew fallen, nimmt die ukrainische Journalistin K. zuallererst einmal ein Bad. „Eine halbe Stunde lang saß ich einfach nur da. Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich fühle“, hält das Tagebuch fest.

Eine Zeichnung dazu zeigt eine junge Frau am Fenster. Angeschnitten im Halbprofil. Sie hält den Vorhang zurück. Draußen fällt ein brennendes Flugzeug vom Himmel.

Zwei Seiten eines Tagebuches, das die Karlsruher Illustratorin Nora Krug gestaltet hat.
Zwei Perspektiven auf den Ukraine-Krieg. Woche für Woche berichten die ukrainische Journalistin K. aus Kiew und der russische Künstler D. aus ihrem Alltag. Die Illustratorin Nora Krug hat das Tagebuch gestaltet. Foto: Penguin Books

Rund 1.000 Kilometer weiter, in der russischen Stadt Sankt Petersburg, ist der russische Künstler D. ebenfalls wie erstarrt. „Schrecklich“, ist das Wort, mit dem sein Tagebucheintrag beginnt. „Ich trinke Wein mit meiner Frau, und wir sprechen übers Auswandern.“ Auf der Zeichnung darüber sind zwei Hände zu sehen. Sie halten Gläser und prosten sich vor einem aufgeklappten Laptop zu. Auf dem Bildschirm jagen zwei Flugzeuge über einen Brand hinweg.

Derselbe Krieg zur selben Zeit, zwei unterschiedliche Perspektiven.

Karlsruherin gestaltet ein Tagebuch zum Ukraine-Krieg

Der Überfall Putins auf das Staatsgebiet der Ukraine im Februar 2022 berührt auch eine dritte Person auf ganz besondere Art und Weise: Nora Krug lebt im 7.500 Kilometer entfernten New York.

Als der Krieg beginnt, fühlt sich die Deutsch-Amerikanerin ähnlich hilflos. Doch schnell wird ihr klar, dass sie tätig werden muss. „Ich wollte nicht nur die Nachrichten lesen, sondern auch irgendwie darauf regieren“, sagt sie.

Also durchkämmt Nora Krug, die als Illustratorin arbeitet, ihr elektronisches Adressbuch und kontaktiert Menschen in Russland und der Ukraine. Manche kennt sie besser, andere nur flüchtig. Krug will aus erster Hand erfahren, wie es den Menschen vor Ort geht. K., eine in Kiew lebende Journalistin, und D., ein Künstler aus Sankt Petersburg in Russland, antworten ihr. Die drei kennen sich kaum.

Der offene und verletzliche Ton der ersten Kurznachrichten berührt Nora Krug zutiefst. „Ich begriff, dass hier ein ganz besonderer Zugang zum Verständnis der Realität des Krieges liegt“, erinnert sie sich. In den folgenden Tagen reift eine Idee: Aus den regelmäßigen und sehr persönlichen Erfahrungs- und Gefühlsberichten der Ukrainerin und des Russen will sie ein Tagebuch gestalten.

Mit ihrem Buch „Heimat“ eroberte die Karlsruherin die Bestsellerlisten

„Im Krieg – zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und Sankt Petersburg“ erscheint am heutigen Mittwoch (14. Februar) auf dem deutschen Markt. Es ist ein weiteres großes Buchprojekt der Künstlerin, die in Amerika zu den bedeutendsten zeitgenössischen Illustratoren gehört.

Mit ihrem 2018 erschienenen Buch „Heimat“ schaffte es die gebürtige Karlsruherin aus dem Stand auf die Bestsellerlisten in Deutschland und Amerika.

Als „mémoire visuelle“ hatte Nora Krug ihr ungewöhnliches Werk damals bezeichnet. In Texten, Zeichnungen, Schnipseln und Fotos setzt sie sich darin mit der Vergangenheit ihrer Karlsruher Familie auseinander. Welche Rolle spielte ihr Großvater im Nationalsozialismus? Hat er sich schuldig gemacht, und wie ist es um die Verantwortung der Menschen früher und heute bestellt?

Es ist ein tolles Gefühl, zu sehen, wie gut das Buch ankam.
Nora Krug
Autorin und Illustratorin von „Heimat“

„Heimat“ hat für die inzwischen 46-Jährige vieles verändert. Für das aufwendig gestaltete und sehr persönliche Tagebuch wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Das Buch wurde in 17 Sprachen übersetzt. Der phänomenale Erfolg führte die Karlsruherin auf Lesereise um die halbe Welt. Erst mit Corona legte sich der Rummel wieder.

„Es ist ein tolles Gefühl zu sehen, wie gut das Buch damals ankam“, sagt die zierliche Frau mit den ernsten braunen Augen beim Video-Telefonat aus ihrer Wohnung in Brooklyn. Seit über 20 Jahren lebt sie dort. Sie ist verheiratet und hat eine kleine Tochter.

Dass „Heimat“ in vielen deutschen Schulen und mindestens einer amerikanischen Universität inzwischen zur Pflichtlektüre gehört, mache sie stolz. Das Genre der Graphic Novel habe damit viel Anerkennung erhalten. „Es hat ein Umdenken stattgefunden“, hat die Autorin festgestellt.

Viele hätten inzwischen verstanden, dass die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte nicht nur durch akademische Lehrbücher gemacht wird, „sondern auch mit Medien, die jüngere Menschen emotional und direkter erreichen können.“

Emotionaler Zugang zur Wirklichkeit des Krieges

Auch mit ihrem jetzt erscheinenden Buch „Im Krieg“ will Nora Krug über die Illustration einen emotionalen Zugang zu Politik und Weltgeschehen schaffen. Anders als bei „Heimat“, stehen diesmal fremde Menschen im Mittelpunkt. K. und D., die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben, stehen stellvertretend für die vielen Namenlosen, deren Leben durch den Krieg gerade für immer verändert wird.

Buchcover von „Im Krieg“, geschrieben und illustriert von Nora Krug
„Im Krieg“ von Nora Krug Foto: Penguin

In den zwölf Monaten nach dem Einmarsch der Russen in der Ukraine kommuniziert die Illustratorin im fernen Amerika regelmäßig mit ihren beiden Protagonisten. Jede Woche erntet sie deren Berichte und hält sie in Texten und Zeichnungen auf je einer Tagebuchseite fest. Jedem Blatt des einen stellt sie das des Anderen gegenüber. So entsteht ein comicartiger Fortsetzungsroman, der unter dem Titel „Diaries of war“ Woche für Woche in der „Los Angeles Times“ erscheint.

52 Mal berichten K. auf der linken und D. auf der rechten Seite von ihren Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen. Manchmal witzig, meistens traurig und selbst in banalen Alltagsmomenten immer nachdenklich. Der Krieg, das begreift der Leser sofort, hat dem Leben sämtliche Leichtigkeit genommen.

Tagebuch soll die Kontraste und Widersprüche darstellen

Die Erlebnisse der Ukrainerin und des Russen stehen selten im direkten Bezug zueinander. „Mir war von Anfang an klar, dass ich das nicht möchte“, sagt Nora Krug.

Sie habe bewusst keinen vergleichenden Bezug aufbauen wollen. „Im Gegenteil. Ich wollte viel mehr die Kontraste und die Widersprüche darstellen.“

Schon ab Woche 3 sind diese Gegensätze für den Leser nicht mehr zu übersehen. Auf der linken Seite sorgt sich die schlaflose K. um das Überleben ihrer Kinder in einem Kriegsland. Gegenüber berichtet D. von der Enttäuschung seiner Jungs, die sich wegen der Sanktionen gegen Russland das neueste Nintendo-Spiel nicht kaufen können. „Es war mir ganz wichtig darzustellen, dass sich dieser Konflikt auf beiden Seiten völlig unterschiedlich anfühlen kann“, erklärt Nora Krug.

Visueller Journalismus zeigt auch das Innenleben der Menschen

Visuellen Journalismus nennt sie das Genre ihres neuen Buches. Einerseits, weil die Texte fast zeitgleich zum Kriegsgeschehen in der Ukraine entstanden sind. Andererseits aber auch, weil sie in Verbindung mit den Zeichnungen mehr zeigen, als es ein Foto oder eine filmische Reportage je könnten.

Die Zeichnerin sieht und fühlt mehr als das Objektiv einer Kamera erfassen kann. Optik und Gefühl fließen in die Bilder ein.

Indem ich zeichne, mache ich ihre Erfahrungen für alle sichtbar,
Nora Krug
Autorin und Illustratorin

Nora Krug beschreibt ihre Arbeit selbst so: „Indem ich dokumentiere, was ich sehe und höre, werde ich Zeuge der Auswirkungen von politischen Ereignissen auf das Leben anderer. Indem ich zeichne, mache ich ihre Erfahrungen für alle sichtbar, die nicht unmittelbar betroffen sind.“

Für die Autorin ist das die wichtigste Funktion ihrer Kunst. „Vor dem Aufkommen der Fotografie war die Illustration das Medium, das Themen von sozialer und politischer Bedeutung vermittelte“, sagt Nora Krug.

„Über Jahrhunderte hinweg haben Zeichnungen und Illustrationen die Art und Weise beeinflusst, wie wir über die Gesellschaft und die Welt denken – im Guten wie im Schlechten.“ Diesem Erbe sehe sie sich verpflichtet.

nach oben Zurück zum Seitenanfang