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In Bruchsal neue Heimat gefunden

Zwölfjähriges Mädchen aus der Ukraine träumt nachts vom Krieg

Tetiana Sements ist vor zwei Jahren mit ihrer Mutter und ihrer Tochter aus der von Russland besetzten Stadt Nowa Kachowka nach Bruchsal geflüchtet. Mittlerweile arbeitet die Ukrainerin als Schulbegleiterin.

Drei Frauen
Tetiana (Mitte), Daria (rechts) und Natalia leben seit fast zwei Jahren in Bruchsal. Da Tetiana nun eine feste Arbeit hat, sucht sie eine Wohnung für ihre Familie. Foto: Pia Jäger

Bald sind es zwei Jahre: Tetiana Semenets, ihre Tochter Daria und ihre Mutter Natalia sind 2022 aus der Ukraine nach Bruchsal geflohen.

Ihre Heimatstadt Nowa Kachowka ist damals von der russischen Armee besetzt worden. Dabei hatten sie, was sie am Leib trugen, Papiere, Handys und ihre Katze. „Es musste schnell gehen und bei sechs Personen in einem Auto war kein Platz für Gepäck“, erzählt Tetiana. Am 1. Mai 2022 kamen sie in Deutschland an, kurze Zeit später bekamen sie ein Zimmer in einem Flüchtlingswohnheim der Stadt Bruchsal.

Deutsch zu lernen, das ist das Wichtigste für Tetiana und Daria – um dazuzugehören, um Fuß zu fassen. Viel Unterstützung bekommen sie von Sofia Masloboeva im Frauencafé im Haus der Begegnung und von Elisabeth Storck von der Pfarrgemeinde St. Paul, die beispielsweise bei Behördengängen und mit dem Jobcenter helfen.

Ein Jahr lang besucht die damals zehnjährige Daria eine sogenannte Vorbereitungsklasse in der Konrad-Adenauer-Schule. Dann wechselt sie aufs Gymnasium St. Paulusheim. „Ich habe angerufen und gesagt, dass ich dort zur Schule gehen möchte“, erzählt Daria, die ganz genau weiß, was sie werden will. „Zahnärztin, dafür tue ich alles.“ Eine Woche Probeunterricht am Paulusheim – und Daria darf in der siebten Klasse durchstarten.

Das Mädchen meldet sich selbst im Bruchsaler St. Paulusheim an

„Ich bin so glücklich“, sagt sie, auch wenn der Unterricht extrem schwer ist, weil sie ja alles in Deutsch verstehen muss. Aber das Mädchen findet schnell Freundinnen in seiner Klasse, die ihm helfen. Und Daria bekommt dreimal die Woche Nachhilfe in Deutsch, vor allem in deutscher Grammatik. Damit nicht genug: Online nimmt Daria weiterhin am Unterricht ihres Gymnasiums in der Ukraine teil.

Auch Tetiana hat Deutsch gelernt, mittlerweile schon in der Kompetenzstufe B1/2. In ihrem gelernten Beruf als Krankenschwester und Managerin im sozialen Bereich darf sie allerdings in Deutschland nicht arbeiten, die Aufgaben sind zu unterschiedlich. „Also habe ich nach einer anderen Arbeit geschaut, bei der ich mit Menschen zu tun habe“, erzählt Tetiana. Denn sie möchte Geld verdienen, möchte unabhängig von Jobcenter und deutschen Behörden sein. Seit Dezember arbeitet sie nun als Schulbegleiterin im Autismuszentrum Bruchsal und begleitet fünf Tage die Woche einen 13-jährigen Jungen in der Pestalozzischule.

Die Östringer Integrationsbeauftragte Daniela Blech-Straub hat gute Erfahrungen mit ukrainischen Kunden und Kundinnnen gemacht: „Im Landkreis Karlsruhe leben zurzeit etwa 6.000 aus der Ukraine Geflüchtete. Ein hoher Prozentsatz sind Frauen mit Kindern“, sagt Blech-Straub. Gerade bei den meist sehr gut qualifizierten ukrainischen Frauen klappt es ihr zufolge oft gut, eine Arbeit für sie zu finden.

Kleine Familie sehnt sich nach einem Zuhause, um die Verletzungen zu vergessen

Tetiana hat einen Wunsch, den sie sich dank ihres festen Gehalts jetzt erfüllen möchte: eine Dreizimmerwohnung für ihre kleine Familie. Ein Stückchen Geborgenheit und Freiraum für sich, ihre Mutter und vor allem für ihre Tochter. Denn die Bilder aus der Heimat tauchen immer wieder auf: „Wenn ich schlafe, träume ich vom Krieg“, sagt die zwölfjährige Daria. Tetiana geht es nicht anders. „Wir müssen das vergessen, aber es gelingt nicht.“

Niemals hätte sie geglaubt, dass es Krieg geben würde. „Die russischen Menschen sind doch unsere Nachbarn.“ Und doch kam es ganz anders. Am 24. Februar 2022 besetzten russische Truppen Nowa Kachowka in der Region Cherson. Drei Tage lang harrten Tetiana und ihre Familie im Keller aus. Jeden Tag kamen neue russische Soldaten in die Stadt, Sirenen heulten, Bomben schlugen ein. Am 19. April entschloss sich Tetiana, ihre Heimat zu verlassen.

Vater und Sohn blieben zurück in Nowa Kachowka

Zurück blieben ihr Vater, ihr 23 Jahre alter Sohn und dessen Frau. „Ich vermisse sie so sehr“, sagt Daria. So oft es geht, telefonieren sie, schicken Lebensmittel und Süßigkeiten. Denn das Leben in Nowa Kachowka ist nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms und des Wasserkraftwerks im Juni 2023 noch härter geworden. Hunderte Häuser sind überflutet und unbewohnbar, Freunde und Bekannte starben. Auch diese Bilder sitzen in Tetianas Kopf.

Trotzdem: Sie und Daria sind optimistisch, wollen hier in Bruchsal etwas erreichen und eben dazugehören. Deshalb hat Tetiana mit einer Freundin einen ukrainisch-deutschen Chor ins Leben gerufen und Daria tanzt beim Tanzsportclub Blau-Weiß Bruchsal im modernen Ballett. „Integration braucht Zeit und Geduld“, fügt Integrationsbeauftragte Daniela Blech-Straub an, „und eine freundliche, offene Haltung der aufnehmenden Gesellschaft gegenüber den geflüchteten Menschen.“

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