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selbstständig statt bedürftig

Karlsruher Michael Mehnert lebt selbstbestimmt trotz ALS

Als der erste Assistent ging, hat der an ALS erkrankte Michael Mehnert geweint. "Ich dachte, mein Leben geht zu Ende", sagt er heute. In Wirklichkeit war das aber erst der Anfang seines Wegs hin zur Selbstbestimmung. Heute ist er selbst Arbeitgeber und bestimmt, wer ihm assistiert.

Seit 1. August ist Michael Mehnert Arbeitgeber. Er stellt seine Assistenten selbst ein - und kündigt auch selbst, wenn es sein muss.
Seit 1. August ist Michael Mehnert Arbeitgeber. Er stellt seine Assistenten selbst ein - und kündigt auch selbst, wenn es sein muss. Foto: jodo

Als der erste Assistent ging, weinte der an ALS erkrankte Michael Mehnert. " Ich dachte, mein Leben geht zu Ende", sagt er heute. In Wirklichkeit war das aber erst der Anfang seines Weges hin zur Selbstbestimmung. Heute ist er selbst Arbeitgeber. Er bestimmt, wer ihm assistiert und bezahlt seine Assistenten auch selbst. Das bringt Freiheit, aber auch ganz neue Herausforderungen.

In dem Begriff "Pflegebedürftige" steckt sie bereits drin, die Bedürftigkeit. Dem Karlsruher Michael Mehnert ist das ein Dorn im Auge. Er hat amyotrophe Lateralsklerose (ALS) und sitzt im Rollstuhl. Arme und Beine müssen seine Assistenten für ihn sein. Trotzdem will Mehnert so selbstbestimmt wie möglich leben. Seit dem 1. August ist er selbst Arbeitgeber. Er stellt seine Assistenten ein und er kündigt ihnen auch, wenn es sein muss. Obwohl ihm das noch schwer fällt.

Eigene Wohnung seit 1995

Es ist ein schwüler Freitagvormittag in Karlsruhe, als sich die kleine Gruppe um Michael Mehnert in dessen eigener Wohnung trifft. Er ist bereits 1995 bei seinen Eltern ausgezogen. Mehnert, zwei seiner Assistenten, Stefan Weinsdörfer und Wolfgang Seigel, seine ebenfalls beeinträchtigte Freundin Verena Wiedmann, ihre Assistentin Melanie Sandt und der Karlsruher Oberbürgermeister Frank Mentrup, zu dem Mehnert ein freundschaftliches Verhältnis pflegt, sitzen bei Brezeln und Orangensaft zusammen. Das Treffen ist nicht zufällig zustande gekommen. Mehnert will heute über das Arbeitgebermodell sprechen, das er selbst erst seit kurzem lebt. Über die Freiheit, die es ermöglicht,  die Herausforderungen, die es mit sich bringt. Und über Dinge, die sich noch ändern müssen.

Raum für spontane Ausflüge

Bis vor kurzem noch gab es für Mehnert keine spontanen Schwimmbadbesuche oder andere Ausflüge. An einen Kurzurlaub wäre nicht im Traum zu denken gewesen. Denn bis vor kurzem wurden ihm seine Assistenten von der Arbeiterwohlfahrt vermittelt. Das bedeutete für diese feste Arbeitszeiten mit anschließenden Pausen - so, wie der Tarif es vorschreibt. Für Michael Mehnert und viele andere Beeinträchtigte heißt das, dass es so etwas wie Spontaneität einfach nicht gibt.

Lebensgemeinschaft auf Zeit

Die fünf Assistenten, die Mehnert aktuell eingestellt hat, arbeiten in Blöcken von mindestens 24 Stunden. Es ist eine Art Lebensgemeinschaft auf Zeit. Die Assistenten haben auch ein eigenes Zimmer, in das sie sich zurückziehen können, wenn ihr Arbeitgeber oder sie selbst ihre Ruhe haben möchten. "Anders würde es auch nicht gehen," sagt Weinsdörfer. Sein Arbeitgeber stimmt zu. Eine grundsätzliche Sympathie müsse es aber auch geben, damit diese Lebensgemeinschaft funktionieren kann, sagt Assistent Seigel. "Man muss sich schon riechen können."

Deswegen gibt es bei Mehnert immer einen "Schnupperkurs", bevor ein neuer Assistent eingestellt wird, erklärt er. Beide Parteien, Arbeitgeber und Bewerber auf die Assistentenstelle, treffen sich dann zu einem etwa einstündigen Gespräch. Ist dieses erfolgreich, folgt eine dreimonatige Probezeit und eine Einlernphase - wie bei einem ganz normalen Arbeitsverhältnis. Zwei Mal im Jahr spielen alle zusammen Minigolf oder gehen zusammen zum Bowling. Dass sich im Team alle kennen und miteinander gut auskommen, darin sieht Mehnert einen großen Vorteil.

Freiheit ist auch eine Herausforderung

Die neue Freiheit, die Mehnert durch seine Assistenten erhält, ist auch eine neue Herausforderung für ihn. "Ich muss mich umgewöhnen und mir klar machen, dass ich diese Freiheit tatsächlich beanspruchen kann und darf", gibt Mehnert zu. Viele beeinträchtigte Menschen seien oft nicht spontan, weil sie nicht daran gewöhnt seien, spontan agieren zu können. "Ich bin ja auch nicht spontan", sagt Mehnert und grinst in Richtung seines Assistenten.

"Viele Beeinträchtigte sind passiv"

Auch in seine Rolle als Arbeitgeber muss Mehnert noch hineinwachsen. "Ich will ja nicht den Chef raushängen lassen", sagt er. „Für mich ist es manchmal unangenehm, wenn ich sagen will, ich brauche meine Ruhe.“ Er wolle den Assistenten ja "keinen Korb geben." Mehnert glaubt, dass auch Kindheitsprägungen dabei eine Rolle spielen. Viele beeinträchtigte Personen sind passiv, sagt er. Sie leben unter einer Käseglocke und sind es nicht gewohnt, selbst etwas zu fordern. "Fürsorge soll ja immer Dankbarkeit hervorrufen, denken viele", wirft Mentrup ein und Mehnert nickt zustimmend.

Wie können beeinträchtigte Arbeitgeber in die Chefrolle hineinwachsen?

Um in die Chefrolle hineinzuwachsen sind beeinträchtigte Personen wie Michael Mehnert noch häufig auf sich allein gestellt, zumindest in Deutschland. Im österreichischen Linz hat Mehnert einmal einen Supervisions-Kurs besucht. Dort konnte er lernen, wie man auch einmal "Nein" sagt oder wie er als Arbeitgeber Aufträge erteilt. Solche Kurse wünscht sich Mehnert, der selbst auch Vorträge in der Zivildienstschule hält, auch hier. "Zivis und Assistenten bekommen das", sagt Mehnert. "Warum gibt es das nicht für mich?" Mentrup signalisiert seine Zustimmung. Vielleicht könnte man so etwas mit der Volkshochschule machen, überlegt er laut. Oder mit der IHK.

Lernen aus Erfahrung

Bis es solche Kurse gibt, muss Mehnert eben durch die eigene Erfahrung lernen. Das gelingt aber immer besser. Auch weil seine Assistenten "ihn machen lassen", wie er sagt. Dadurch sammelt Mehnert Erfahrung, auch wenn die manchmal unangenehm ist. "Einmal waren wir spazieren und es fing an zu regnen", erzählt Mehnerts Assistent Stefan Weinsdörfer. "Ich hatte meine Regenjacke dabei, Michael nicht. Da wurde er eben nass." Viele Leute hätten dafür kein Verständnis gehabt, berichtet auch Mehnert. Aber genau das sei eben Selbstbestimmung. "Wenn ich Mist baue, ist das meine Verantwortung."

Michael Mehnert ist Gründer des Vereins Free like a Bird e.V. Selbstbestimmt leben! In dem Verein kommen Menschen zusammen, die ihr Leben selbst mit Hilfe von persönlichen Assistenten und barrierefreiem Wohnraum organisieren möchten. Wer dem Verein beitreten möchte, kann hier die Beitrittserklärung herunterladen.

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