Skip to main content

Leere Wartezimmer

Ergothera­peutin aus Pforzheim fällt nicht unter den Schutzschirm - und bangt um Existenz

Der Pforzheimer Ergotherapeutin Waltraut Betker brechen die Einnahmen weg, weil viele Patienten aus Angst vor Ansteckung zuhause bleiben. Der Corona-Schutzschirm der Bundesregierung teilt die Gesundheits- und Heilberufe auf folgenschwere Weise in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft.

None
Einen speziellen Werkraum für Motorik und Muskelaufbau ihrer jüngsten Patienten hat Ergotherapeutin Waltraut Betker in ihrer Pforzheimer Praxis eingerichtet. Aus Angst vor Corona bleiben derzeit viele Patienten zuhause. Betker und ihr Team bringt das in Existenznot. Foto: Jürgen Müller

Der Corona-Schutzschirm der Bundesregierung teilt die Gesundheits- und Heilberufe auf folgenschwere Weise in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Denn nach der aktuellen Regelung fallen etwa Ergo- und Physiotherapeuten nicht darunter. Eine Ergo-Therapeutin aus Pforzheim bangt nun um ihre Existenz.

273 Behandlungstermine standen vergangene Woche auf dem Plan. Doch 25 Prozent der Patienten sagten ab. Bis Ende dieser Woche rechnet Waltraut Betker mit Ausfällen in Höhe von mehr als 50 Prozent.

Seit 1992 betreibt die Ergotherapeutin eine Praxis in der Jörg-Ratgeb-Straße. Finanziell war ihr Berufsstand noch nie auf Rosen gebettet. Aber jetzt muss sie um ihre Existenz bangen. „25 Prozent weniger wären noch zu verkraften, aber die Corona-Krise ist ja in zwei Wochen nicht vorbei.“

Erstmal keine Erstattung von Einnahmeausfällen

Betkers vage Hoffnung, mit unter den Schutzschirm genommen zu werden, den die Bundesregierung am Mittwoch aufgespannt hat, zerschlugen sich am letzten Donnerstag im März , als die SPD-Bundestagsabegordnete Katja Mast auf Nachfrage dieser Redaktion mitteilt: „Die Unterstützung der Heilmittelerbringer muss nun in einem weiteren, schnellen Schritt in den Fokus genommen werden.“

Zum Thema:

Das heißt: Ärzte und Psychotherapeuten bekommen Einnahmenausfälle erstattet. Logopäden, Podologen, Ergo- und Physiotherapeuten dagegen nicht.

In einem ersten Schritt habe die Regierung dafür gesorgt, dass Krankenhäuser einen steigenden Bedarf an Intensiv- und Beatmungskapazitäten zur Behandlung von Corona-Patienten bewältigen könnten. Die Sicherstellung von stationärer wie ambulanter Behandlung sowie die Versorgung Pflegebedürftiger sei ebenso von vorrangiger Bedeutung gewesen wie Unterstützung und Entlastung der Beschäftigten in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen.

Völlig neue Situation für die Branche

Betker beschäftigt ein achtköpfiges Therapeutenteam, drei weitere arbeiten Teilzeit. Ihre Situation wie die der Heilmittelerbringer generell dürfte sich nun weiter zuspitzen. „Alle Heilmittelerbringer stehen mit dem Rücken zur Wand“, bestätigt Andreas Pfeiffer, Vorsitzender des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten (DVE) mit Sitz in Karlsbad-Ittersbach. Bei Wartezeiten von bis zu drei Monaten für einen Behandlungstermin kannte die Branche bislang keine Umsatzausfälle.

Jetzt spricht Pfeiffer von bis zu 90 Prozent an Einbußen. Er berichtet von einem gerade geführten Gespräch mit einem in Tränen aufgelösten Ergotherapeuten: „Er weiß nicht, wie er seine Mitarbeiter bezahlen soll.“

Ebenso könnte es bald Waltraut Betker ergehen. Zwar bekommt sie wie alle Solo-Selbstständigen Hilfe vom Land und den Kommunen in Form von Kurzarbeitergeld und Soforthilfen. Letztere sind gestaffelt nach der Zahl der Beschäftigten.

Je nachdem, ob ihre Teilzeitkräfte mitgerechnet werden, wären das für Betker zwischen 15.000 und 30.000 Euro für drei Monate. Damit könne man Miete und andere Fixkosten bezahlen, aber viel mehr nicht, erklärt Verbandssprecher Pfeiffer.

Zum Thema:

Keine angemessen Löhne möglich

Was Heilmittelerbringer über viele Jahre in eine immer größere Schieflage gebracht hat, ist laut Pfeiffer die Grundlohnsumme. „Man bekam von Krankenkassen maximal die Grundlohnsummenentwicklung als Preiserhöhung zugestanden“. Meist seien das zwischen null und zwei Prozent mehr gewesen. So habe es in den vergangenen rund 20 Jahren faktisch keine Lohnerhöhung gegeben.

Die Schere zwischen Grundlohnsummenerhöhung und Tariferhöhung sowie Kostenentwicklung sei immer weiter auseinander geklafft.

„Wir lagen um rund 40 Prozent unter der gesellschaftlichen Entwicklung“, sagt Pfeiffer. Die Folge: Selbstständige konnten ihren Mitarbeitern keine angemessenen Löhne zahlen – und erst recht keine Rücklagen bilden. „Das hat vielfach zu Altersarmut geführt.“

Etwas besser wurde die finanzielle Lage, als die Grundsummenregelung innerhalb einer Gesetzesänderung unter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im vergangenen Juli fiel. „Da konnten wir mal durchatmen“, sagt Betker. „Aber jetzt ist die Corona-Krise da.“

Sie führt dazu, dass Patienten Angst haben, sich unterwegs anzustecken und daher lieber zuhause bleiben. Und dass Kinder nicht mehr zur Behandlung in Betkers Praxis kommen können, weil ihre Eltern zur Risikogruppe gehören.

Verband fordert Nachbesserungen beim Schutzschirm

„Dass wir als systemrelevante Berufsgruppe vom Schutzschirm ausgeschlossen sind, ist ein Widerspruch“, sagt Pfeiffer. All das treffe auch die Patienten.

Pfeiffer fordert eine Nachbesserung, wenn im Bundestag wieder verhandelt wird und stellt sich eine Regelung analog zu Ärzten vor: Diese bekämen den Umsatz des Vergleichsmonats aus dem Vorjahr erstattet. Da Heilmittelerbringer erst im Juli 2019 von besagter Grundlohnsummenerhöhung befreit wurden, müsse man einen anderen Vergleichmonat, beispielsweise den Oktober, als Grundlage heranziehen

Laut Verbandssprecher gibt es im Raum Pforzheim rund 15 Ergotherapie-, 20 Physiotherapie- und zirka zehn Logopädie-Praxen – mit jeweils großem Patientenstamm.

SPD-Abgeordnete Mast erklärt, sie erwarte von Spahn ein zügiges Konzept für Heilmittelerbringer. Betker und ihre Kollegen hoffen darauf – und darauf, dass nicht noch mehr Patienten fernbleiben, obwohl sie dringend behandelt werden müssten.

Betker bietet auch telefonische Sprechstunden an. Behandlungen mit Körperkontakt und der Hausbesuch im Seniorenheim entfallen bis auf weiteres. Aber es gibt noch das persönliche Gespräch – und die Möglichkeit, Übungen anzuleiten.

nach oben Zurück zum Seitenanfang