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Grünen-Politiker unterwegs

Wird Cem Özdemir der Nachfolger von Kretschmann?

Als Bundeslandwirtschaftsminister hat Cem Özdemir im Südwesten viele Auftritte – viele Grüne sehen in ihm den künftigen Ministerpräsidenten.

Cem Özdemir (Grüne), Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, steht vor einem Feld mit Weizen.
Cem Özdemir (Grüne), Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, wird als potenzieller Nachfolger von Winfried Kretschmann gehandelt. Foto: Soeren Stache/dpa

Cem Özdemir, dunkler Anzug, Krawatte, eine Blume am Revers, fährt in einer historischen Kutsche durch seine Heimatstadt Bad Urach. Vorbei an der Langen Straße, in der sein Elternhaus steht. Vorbei an den pittoresken Häusern der Altstadt in Richtung des Sportplatzes, wo an diesem Tag junge Schäferinnen und Schäfer um die Wette laufen werden, der Höhepunkt des Stadtfestes.

Als er ein Junge gewesen sei, wird der Bundeslandwirtschaftsminister später bei der Ehrung der Sieger sagen, habe er immer davon geträumt, als Trommler beim Fanfarenzug den Umzug mitzumachen. Nun sitzt er sogar in der „Ehrenkutsche“ mit Bad Urachs Bürgermeister, Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dessen Frau Gerlinde.

Özdemir genießt Ausflug in die Heimat

Während des Umzugs hält er in der einen Hand zur gelegentlichen Stärkung eine Brezel, mit der anderen winkt er ausdauernd in die Menge, die den Weg zum Sportplatz säumt, und ruft abwechselnd „Grüß Gott“ und „schönen Schäferlauf“. Özdemir, so viel ist schon mal klar, genießt den Ausflug in die Heimat. In Bad Urach ist der „anatolische Schwabe“, wie sich Özdemir mal selbst etikettiert hat, 1965 als Kind von Gastarbeitern zur Welt gekommen.

Als er am Ende der Grundschule den Wunsch äußerte, aufs Gymnasium zu wechseln, lachten ihn Lehrer und Mitschüler aus. Nun wird Özdemir vom Bürgermeister als „wohl bekanntester Sohn unserer Stadt“ begrüßt.

Der Ausflug zum Schäferlauf ist eine gute Gelegenheit, die Stimmung im Land zu testen. Nicht nur, weil den Grünen in Berlin gerade ziemlich der Wind ins Gesicht bläst. Es könnte ja auch sein, dass Özdemir früher oder später den Platz seines heutigen Gegenübers, des Ministerpräsidenten, einnehmen will. Zu den Spekulationen würde sich der 57-Jährige gegenüber Journalisten nicht einmal im vertraulichen Gespräch in einer Art und Weise äußern, die sich valide deuten ließe. Aber vielleicht liegt die Antwort ja am Wegesrand, den beim Umzug rund 30.000 Schaulustige säumen.

Es ist ein bunter Querschnitt der Bevölkerung, Jung und Alt, Einheimische und Tagestouristen aus dem ganzen Land, Leute mit schmalem Geldbeutel und Gutbetuchte, Grünen-Fans und Grünen-Hasser – und die ganz große Bandbreite dazwischen.

„Machen Sie weiter mit Ihrer Anti-Zucker-Kampagne, die ist super“, ruft eine Frau, die auf einem mitgebrachten Hocker sitzt. „So viele Bodyguards, die braucht’s bei den Vögeln“, schimpft einige Meter weiter ein den Grünen offenbar nicht sonderlich zugetaner Mann angesichts der stattlichen Zahl von acht Personenschützern, die die Ehrenkutsche begleiten. „Da gibt’s Schlimmere“, nimmt ein anderer Besucher die prominenten Politiker in Schutz.

Auf weiten Strecken applaudiert die Menge freundlich; aber wenn der nicht repräsentative Eindruck vom Wegesrand nicht täuscht, fliegen Kretschmann die Sympathien der Besucher des Schäferlaufs uneingeschränkter zu als Özdemir. Der eine ist für viele „dr Kretschmann“, der andere „dr Cem“; der eine der Landesvater, der andere einer, der an seiner Rolle noch feilt. Wobei: Ihren Platz in den Geschichtsbüchern haben beide schon sicher, Kretschmann als erster grüner Ministerpräsident, Özdemir als erster türkischstämmiger Bundesminister der Republik.

Kretschmann kann sich noch den Zusatz des längst gedienten Ministerpräsidenten Baden-Württembergs dazuverdienen, wenn er bis zum Ende der Legislaturperiode 2026 im Amt bleibt. Özdemir dagegen kann seine politische Vita noch erheblich aufwerten, falls er ihm als Regierungschef in Stuttgart nachfolgen sollte.

Kretschmann mit kleinem Özdemir Werbeblock

Die Frage ist nur, ob die Rechnung, die nicht zuletzt viele Grüne aufmachen, so aufgeht. Die Antwort hängt längst nicht mehr davon ab, ob der Jüngere früher oder später den Sprung nach Stuttgart wagt. Im Gegenwind der Heizungsdebatten und der unpopulären Ampelregierung in Berlin ist auch die Zustimmung für die Grünen im Land im Sinken und ein weiterer Wahlsieg kein Selbstläufer.

So nutzt Kretschmann nach der Kutschfahrt seine Festrede auch für einen kleinen Özdemir-Werbeblock. Mit „dem Cem“ sei „wenigstens ein Schwabe an der Regierung und da er über 40 ist, ist er zwangsläufig auch gscheit“. Aber, fügt der Ministerpräsident hinzu, er sei eben der einzige Schwabe unter Nordlichtern in der Bundesregierung. „Das erklärt so einiges.“

Es ist natürlich eine geografisch wie parteipolitisch sehr einseitige Betrachtung der Dinge.

Der launigen Kretschmann- folgt eine fast schon sentimentale Özdemir-Rede. Wenn er in Berlin mit dem Fahrrad ins Ministerium fahre, erzählt er am Mikrofon, habe er manchmal das Schäferlied auf den Lippen. Die Mitarbeiter würden dann sagen: Oh, jetzt hat er wieder den Bad-Urach-Blues.

Eine tiefere Verneigung vor der Heimat geht kaum, und dass der dem Berliner Stimmungstief kurzfristig entflohene Minister kurz darauf die neue Schäferkönigin krönen darf, passt ins Bild. Dass er dabei zur falschen Krone greift, sodass Schäferkönigin und -könig ihren Kopfschmuck tauschen müssen, sorgt für Erheiterung und lässt Özdemir zumindest kurzfristig im Sympathieranking näher an Kretschmann heranrücken.

Dass Stimmungen wechseln können, weiß Özdemir nur allzu gut. Bereits 1981 den Grünen beigetreten, zog der Sozialpädagoge 1994 erstmals in den Bundestag ein. Als erster Abgeordneter mit türkischen Wurzeln und als begnadeter Redner war ihm die mediale Aufmerksamkeit sicher.

Acht Jahre später stürzte der Medienstar so tief, dass keiner wusste, ob er jemals wieder aufstehen würde. Aus der Vermischung privater und dienstlicher Bonusmeilen und aus dem Bekanntwerden eines Kredits des PR-Beraters Moritz Hunzinger für eine Steuernachzahlung zog er 2002 die Konsequenz, sein Mandat niederzulegen. Er nutzte die Zwangspause für ein außenpolitisches Sabbatical in den USA und für einen Abstecher ins Europaparlament, bevor er sich nach und nach wieder in die erste Reihe vorkämpfte, Rückschläge eingeschlossen.

So verweigerte die Partei ihrem damaligen Bundesvorsitzenden Özdemir 2008 einen sicheren Listenplatz für die Bundestagswahl 2009, bei der er in seinem Stuttgarter Wahlkreis dann sensationelle 29,9 Prozent der Zweitstimmen holte, noch vor „Fukushima“ und Kretschmanns Wahlsieg 2011. Der Schönheitspreis brachte ihm nur kein Mandat. Die Erfahrung hat ihn gelehrt, sich eine gewisse Unabhängigkeit von der eigenen Partei zu bewahren.

Wir sollten mehr Mut haben, zu wachsen – ohne eine lähmende Angst, uns dabei untreu zu werden.
Cem Özdemir
Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft

Auf der Bundesgartenschau in Mannheim steht der Weizen hüfthoch. Der Mais scheint dagegen auf den Regen gewartet zu haben, der einsetzt, als Cem Özdemir über den „Weltacker“ geführt wird. Im Kleinen soll die Anbaufläche Anschauungsmaterial für die großen Ernährungsfragen bieten. Man müsse über den eigenen Konsum nachdenken, sagt Özdemir in seiner Rede. Es würden zu viele Lebensmittel für „Tank, Trog und Tonne“ produziert, während weltweit 735 Millionen Menschen vom Hunger bedroht seien.

Die Botschaft laute: „Es ist genug für alle da, nur nicht für jedermanns Gier!“ Er kommt auf seine in jungen Jahren gefällte Entscheidung zu sprechen, Vegetarier zu werden. Er habe sich gefragt, was denn passiere, wenn jeder so viel Fläche verbrauche, wie er für den durchschnittlichen Fleischkonsum in Deutschland notwendig sei. „Daraus muss nicht diese Entscheidung folgen, die ich gefällt habe.“ Tierhaltung gehöre ja auch zur Kreislaufwirtschaft; man könne ja auch auf regionale Erzeugung schauen oder auf faire Haltung achten.

Özdemir will Fleischessern keine Angst machen

Özdemir ist ein Vegetarier, der Fleischessern keine Angst machen will; und ein Radfahrer, der in der Autostadt Stuttgart bei der Bundestagswahl 2021 mit knapp 40 Prozent der Erststimmen das Direktmandat und das bundesweit beste grüne Ergebnis eingefahren hat. Für seine auch parteiinternen Kritiker ist er damit einer, der auf Teufel komm raus allen gefallen will. Seine Anhänger preisen ihn dagegen als einen, der grüne Positionen mehrheitsfähig machen kann.

„Wenn wir die Menschen, Vereine, Unternehmen oder Bürgerinitiativen erreichen wollen, dann sollten wir überall in der Republik mehr auf sie zugehen – und nicht warten, bis sie zu uns kommen. Wir sollten mehr Mut haben, zu wachsen – ohne eine lähmende Angst, uns dabei untreu zu werden“, hat er seinen Ansatz 2016 in seiner Bewerbung um einen Listenplatz beschrieben.

Es ist die Methode Kretschmann, die die Wähler oft mehr goutieren als die eigene Partei.

Seinen Traum, Außenminister zu werden, musste der profilierte Außenpolitiker Özdemir nach den gescheiterten Jamaika-Sondierungen 2017 begraben. Vier Jahre später schaffte er es dann knapp ins Kabinett, als Bundeslandwirtschaftsminister. Seither versucht er, die widerstreitenden Interessen grün-naher Basisorganisationen und der CDU-nahen Agrarlobby auszutarieren.

Es ist seine bislang härteste Prüfung, auch, weil das Geld aus Brüssel fehlt, um Konflikte zuzudecken. Und weil seine Angebote zur gedeihlichen Zusammenarbeit in einer Ampelregierung oft ins Leere laufen, in der die Schwächung des politischen Partners höher gewichtet wird als der gemeinsame Erfolg.

In Stuttgart wäre es möglicherweise einfacher. 

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