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Meinung

von Klaus Gestwa

Gastbeitrag

Historiker Klaus Gestwa: Wehrhaftigkeit und Solidarität – neuer Blick auf die Ukraine

Moskaus Blick auf den Nachbarstaat als einen Teil der „russischer Welt“ führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Ukraine im Westen. Sie sollte korrigiert werden, fordert der Tübinger Forscher.

Tübinger Osteuropa-Historinger Klaus Gestwa.
In Europa sollte die kulturelle und staatliche Eigenständigkeit der Ukraine als handlungsmächtiger politischer Akteur mehr gewürdigt werden, findet der Tübinger Osteuropa-Historinger Klaus Gestwa. Foto: Klaus Gestwa

Die Ende Juni 2023 durch eine russische Rakete in der ostukrainischen Stadt Kramatorsk getötete Schriftsteller Viktoria Amelina beklagte in einem ihrer letzten Beiträge, auf der Landkarte Europas klaffe dort, „wo die ukrainische Kultur sein sollte, eine riesige Lücke.“ Doch kriegsbedingt erleben wir gerade die Verschiebung unserer gewohnten Blickachse.

Inzwischen kennen wir die Namen der ukrainischen Großstädte genauso wie die Frontverläufe. Mit seiner ruchlosen Politik der Entukrainisierung hat Russlands Präsident Wladimir Putin erreicht, dass aus dem Nebel des Krieges eine durch zivilgesellschaftliche Kräfte gestärkte Ukraine hervorgetreten ist, deren Dimension und Gewicht als zweitgrößter Flächenstaat Europas mit einer Bevölkerung von über 41 Millionen Menschen immer deutlicher wird.

Ein Land mit reicher und komplexer Geschichte

Wir erfahren nun, dass die Ukraine keineswegs integraler Teil der „russischer Welt“ ist, wie die Kreml-Propaganda uns weismachen will. Vielmehr stellt die Ukraine eine europäische Nation und ein unabhängiges Staatswesen mit komplexer Geschichte und vielgestaltiger Kultur dar, von deren Reichtum wir noch viel zu wenig wissen.

Über Jahrhunderte zwischen den großen europäischen Landimperien aufgeteilt, erlangte die Ukraine 1991 ihre Eigenstaatlichkeit, nachdem sich bei einem Unabhängigkeitsreferendum eine überwältigende Mehrheit für die Bildung eines ukrainischen Nationalstaats ausgesprochen hatte. Das im Auflösungsprozess der Sowjetunion neu gegründete Land erwarb sich internationale Anerkennung vor allem durch das Budapester Memorandum, als die Ukraine 1994 auf ihr Atomwaffenarsenal verzichtete und dafür die Unverletzbarkeit ihrer Grenzen zugesichert bekam – eine Garantie, die Russland mit der Annexion der Krim schon 2014 brach.

Bei unserer mühsamen Neuentdeckung der Ukraine offenbart sich, dass dieses Land keineswegs ein von den USA, der EU und Russland ständig manipulierter Marionettenstaat ist, sondern sich als handlungsmächtiger politischer Akteur selbstbewusst auf einen eigenen Weg in die Welt des 21. Jahrhunderts gemacht hat. Der in seinen lebenswichtigen Infrastrukturen schwer verwüstete Staat beeindruckt nach fast 18 Monaten Krieg weiterhin durch ein enormes Maß an Gemeinsinn und Zusammenhalt.

Meinungsumfragen belegen selbst bei russischstämmigen Menschen das klare Bekenntnis zu ihrer ukrainischen Heimat. Der 2019 zum Präsidenten gewählte Wolodymyr Selenskyj, der aus einer russischsprachigen, jüdischen Familie stammt, ist längst zur nationalen Symbolfigur für die Wehrhaftigkeit seines Landes geworden.

Kiewer Kämpfer als „Anti-Putin“

Mit seiner authentischen Art der direkten Kommunikation auf Augenhöhe inszeniert er sich überzeugend als Anti-Putin. Im Kontrast zum politischen Populismus unserer Zeit vermittelt Selenskyj nicht Angst, sondern Zuversicht und ermächtigt die Menschen dazu, sich auch im Krieg nicht von Hass, Wut und Verzweiflung überwältigen zu lassen.

Zwar bleibt die Korruption in der Ukraine ein großes Problem. Dessen Lösung ist in den letzten Jahren jedoch angegangen worden, wie zuletzt das Durchgreifen gegen Amtsmissbrauch im Militär- und Gerichtsbereich beweist. Durch den zerstörerischen Krieg haben die Oligarchen einen Teil ihrer ökonomischen und politischen Macht eingebüßt. Das schafft neue Möglichkeiten, die Netzwerke ihres Einflusses weiter zu entflechten. Beim weiteren Weg der Ukraine gilt es, besonders darauf zu achten, dass der Wiederaufbau des Lands auf faire sowie sozial und ökologisch verträgliche Weise geschieht.

Mit ihren Dezentralisierungsreformen bietet die ukrainische Politik den Menschen vor Ort mittlerweile weitreichende Chancen, sich aktiv in politische Gestaltungsprozessen einzubringen. Diese demokratischen Experimente werden der neu entstehenden politischen Landschaft Impulse geben und darüber hinaus Wegzeichen für Europa setzen.

Unerträgliche Arroganz im Westen

Trotz dieser spannenden Entwicklungen der zu sich selbst findenden ukrainischen Bürgernation meinen einige westliche Intellektuelle, die sich längst im postnationalen Zeitalter wähnen, von der hartnäckigen nationalen Selbstbehauptung der Ukraine nichts lernen zu können. Sie verkennen so, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderte das Ukrainische zur Sprache der Demokratie, der Dekolonisierung und des Antiimperialismus geworden ist.

Unerträglich wird diese vor Arroganz und Ignoranz triefende Haltung, wenn der Ukraine aus Deutschland nahegelegt wird, doch endlich Frieden im Tausch gegen Territorium zu schließen. Das würde aktuell bedeuten, knapp ein Fünftel des ukrainischen Staatsterritoriums dem Aggressor als Kriegsbeute zu überlassen.

Mehrere Millionen ukrainische Staatsbürger wären dann der brutalen russischen Besatzungsmacht dauerhaft ausgeliefert, deren Schrecken und Grauen in Butscha und Mariupol zur Anschauung kam. Putin würde eine solche Beschwichtigungspolitik sicherlich nicht von seinem Kriegspfad abbringen. Zudem schüfe ein Verzichtsfrieden den gefährlichen Präzedenzfall, dass sich auch im 21. Jahrhundert Eroberungskriege weiter lohnen.

Moskauer imperiale Brille ablegen

Durch Russlands Invasion in die Ukraine liegt der politische Mittelpunkt des europäischen Kontinents genauso so wie seine Zukunft heute deutlich weiter östlich. Nur wer ernst nimmt, dass die russischen Bomben und Raketen auf die Ukraine auch viel ideologisches Gebälk über uns in Deutschland zusammenbrechen lassen, wird in der Lage sein, die Welt verstehen und gestalten zu können, in der wir alle am 24. Februar 2022 aufgewacht sind.

Ein wichtiger Schritt dazu ist, dass wir die von Viktoria Amelina beklagte ukrainische Leerstelle auf unserer mentalen Landkarte durch eine kritische Solidarität mit dem durch Russlands imperialen Angriffskrieg schwer verwundeten Land weiter ausfüllen. Wir sollten auch endlich die Moskauer imperiale Brille ablegen, die unsere Perspektive auf die Ukraine viel zu lang verzerrt hat.

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