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Kriegsgefahr im Baltikum

Moskaus Vorposten in der Nato: Krise um Kaliningrad wird akut

Russlands baltische Exklave galt einst als „Lokomotive der Zusammenarbeit“ mit Europa. Heute nutzt der Kreml das zwischen Polen und Litauen gelegene Gebiet jedoch dafür, um die Nachbarn unter Druck zu setzen. Im Streit um den blockierten Bahntransit nach Kaliningrad durch Litauen werden in Moskau auch radikale Szenarien diskutiert.

Idyllisch und strategisch wichtig: Die russische Exklave Kaliningrad mit der gleichnamigen Hauptstadt ist durch Litauens Einschränkungen von einem Teil der Lieferungen mit der Eisenbahn aus dem Mutterland abgeschnitten. Das löst in Moskau wütende Reaktionen aus.
Idyllisch und strategisch wichtig: Die russische Exklave Kaliningrad mit der gleichnamigen Hauptstadt ist durch Litauens Einschränkungen von einem Teil der Lieferungen mit der Eisenbahn aus dem Mutterland abgeschnitten. Das löst in Moskau wütende Reaktionen aus. Foto: Marcus Brandt picture alliance / dpa

Russlands neuer Feind ist ein Land etwa von der doppelten Größe Baden-Württembergs und mit 2,8 Millionen Einwohnern, die sich gerade darüber freuen, 2004 der Nato und der EU beigetreten zu sein. Litauen. In den Augen vieler Politiker in Moskau hat der südlichste baltische Staat mit einer „Blockade“ des russischen Gebiets Kaliningrad am Samstag eine rote Linie überschritten und die weltgrößte Atommacht herausgefordert. Die Sache sei damit glasklar: Litauen müsse hart bestraft werden.

Während im Kreml noch über eine geeignete Antwort auf die Unterbrechung des Bahntransits zu Russlands Vorposten im Westen nachgedacht wird, steigt der öffentliche Druck auf den Präsidenten Wladimir Putin, die jüngste Demütigung durch den kleinen Nachbarn zu vergelten. Auch mit extremen Mitteln.

Eine wirtschaftliche „Gegen-Blockade“ Litauens durch Russland und Belarus gehörte am Mittwoch noch zu den milderen Lösungen, die in Moskau aufgeregt diskutiert wurden. Vorgeschlagen wird auch eine Annullierung des Grenzvertrags mit Litauen von 2003, wonach Russland einen Landstreifen zwischen Belarus und Kaliningrad als sein Staatsgebiet beanspruchen würde.

Wir müssen mit Gewalt einen Eisenbahn-Korridor durch Litauen durchschlagen
Andrei Kolesnik, russischer Parlamentsabgeordneter

Es gibt noch radikalere Ideen. „Wir müssen mit Gewalt einen Eisenbahn-Korridor durch Litauen durchschlagen“, fordert der Abgeordnete Kaliningrads in der Duma, Andrei Kolesnik.

Der Ökonom Wassili Koltaschow schlägt vor, Litauen für die Unterbrechung des Transits „eine Rechnung auszustellen, die es niemals wird zahlen können“. Dann, so der zweite Teil des perfiden Plans, könnte man die unzufriedenen Litauer gegen ihre eigene Staatsführung aufstacheln.

„Das haben die nun davon!“, titelt in gespielter Empörung ein Online-Portal. Viel Lärm also um die teils isolierte Exklave, für deren Versorgung manche Russen möglicherweise sogar einen Krieg mit der Nato riskieren wollen. Der Streit um Kaliningrad hat das Potenzial, Europas größte Sicherheitskrise seit Jahrzehnten zu werden.

Kaliningrad sollte Russlands freundliches Tor zum Westen werden

Dies ist umso trauriger, weil das westlichste Gebiet Russlands vor zwei Jahrzehnten eigentlich als Musterbeispiel für die neue Annäherung und freundschaftliche Zusammenarbeit mit der EU galt. Der nördliche Teil des einstigen Ostpreußens hätte insbesondere zu einer „Lokomotive der deutsch-russischen Beziehungen“ werden sollen. Von jenen optimistischen Versprechen ist nicht viel übrig geblieben.

Die Geschichte des Kaliningrad-Gebiets und seiner gleichnamigen Hauptstadt ist untrennbar mit ihrer strategischen Lage an der Ostseeküste verbunden. Die Stadt entstand um eine 1255 vom Deutschen Orden errichtete Burg, sie trat später der Hanse bei. Königsberg wurde im August 1944 durch britische Luftangriffe stark zerstört.

Ein Jahr später wurde das Gebiet auf Drängen des Diktators Josef Stalin auf der Potsdamer Konferenz der Siegermächte der Sowjetunion zugesprochen.

Eine Militärbasis so groß wie Schleswig-Holstein

Den Kommunisten in Moskau war es wichtig, einen weiteren eisfreien Hafen im Baltikum zu bekommen. Die verbliebenen Deutschen mussten fliehen. Faktisch verwandelte sich das „Oblast“ (Gebiet) in eine riesige Militärbasis.

Kein Ausländer durfte sie je betreten. Als die Sowjetunion 1991 zerfiel, blieb der Landfleck von der Größe Schleswig-Holsteins und damals mit 880.000 Einwohnern ein Teil der Russischen Föderation, während die benachbarten Staaten Litauen, Lettland und Estland souverän wurden.

Kaliningrad.
Kaliningrad. Foto: BNN

Die Exklave hatte anschließend mit großen sozialen Problemen zu kämpfen. Aids und Tuberkulose, hohe Arbeitslosigkeit, bittere Armut und unkontrollierte Kriminalität. In den 1990ern überlebten in der Region viele nur, weil sie Benzin und billige Zigaretten zum Verkauf nach Polen schmuggelten.

Grenzschutz und Zoll schauten weg und kassierten ab. Die Lage besserte sich erst, nachdem es Moskau gelang, westliche Firmen mit massiven Steuer- und Zollerleichterungen an die Bernsteinküste zu locken. Eine der ersten war BMW.

Wir verurteilen die Aggressionen gegenüber der Ukraine.
BMW-Erklärung zur Einstellung der Produktion in Kaliningrad

Als Bayerns Automobilbauer 1999 gemeinsam mit seinem russischen Partner Avtotor ein Werk in Kaliningrad eröffneten, kamen die russischen Medien wochenlang nicht aus den euphorischen Schlagzeilen heraus.

Zu den Top-Kunden für „BMW made in Russia“ zählten damals der Kreml und die orthodoxe Kirche. Im vergangenen Jahr wurden im Kaliningrader Werk noch rund 12.000 Fahrzeuge produziert. Nun steht es still. „Wir verurteilen die Aggressionen gegenüber der Ukraine“, gab das Unternehmen am 3. März bekannt.

In diesen „Aggressionen“ ist Kaliningrad jetzt offensichtlich die Funktion der militärischen Abschreckung und Erpressung zugedacht. Russland hat 2018 in der Enklave Boden-Boden-Raketen vom Typ Iskander stationiert, die theoretisch jedes Ziel in den baltischen Staaten treffen, Teile Polens erreichen und wohl auch bis Berlin fliegen könnten. Seit Beginn des Ukraine-Krieges droht der Kreml damit, sie mit nuklearen Sprengköpfen zu bestücken – vor allem, wenn sich Finnland und Schweden der Nato anschlössen.

Drohung mit Atomwaffen

Mit dem atomwaffenfreien Status des Baltikums wäre es dann vorbei, drohte Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew im April. Im Mai hat die russische Armee in Kaliningrad ein Militärmanöver abgehalten und dabei den Iskander-Abschuss simuliert.

Auch die mögliche Stationierung von Hyperschallwaffen und Kriegsschiffen mit Atomwaffen in dem Gebiet gehören zur Drohkulisse des Kreml, mit der vor allem die baltischen Nachbarn eingeschüchtert werden sollen.

Sie wird durchaus ernst genommen. Am Mittwoch befasste sich der Ausschuss für nationale Sicherheit im litauischen Parlament auf einer Krisensitzung mit den Transitverboten und der Möglichkeit, sie irgendwie lockern zu können. Angesichts des Säbelrasselns in Moskau wollten die Parlamentarier auch die Frage erörtern, welche Bereiche Russlands Militär in ihrem Land ins Visier nehmen könnte.

Bundeswehr ist im Konflikt mitten drin

Das dürfte gerade auch die rund 1.000 Bundeswehr-Soldaten beschäftigen, die zur Verstärkung der Nato-Ostflanke als Enhanced Forward Presence (EFP) im baltischen Land stationiert sind.

Nur ein paar Hundert Kilometer trennen sie von russischen Streitkräften. Der Kampfverband soll die Rolle eines „Stolperdrahts“ auf dem Weg einer Invasion im Nato-Gebiet spielen. „Der Krieg ist wieder im Herzen Europas zurück“, stellte kürzlich sein Kommandeur, Oberstleutnant Daniel Andrä, fest. „Und wir sind hier noch ein bisschen dichter dran.“

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