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Interview

Regime-Gegnerin Andrukovic aus Belarus: „Mein Land soll erneut zum russischen Aufmarschgebiet werden“

Die Oppositionsaktivistin Viktoryia Andrukovic spricht über neue Kriegsvorbereitungen mit russischer Beteiligung in ihrem Heimatland Belarus. Und über die Ängste des Diktators Lukaschenko, der dem Kremlchef Putin sein politisches Überleben verdankt.

Gemeinsame Militäreinheit mit Russland angekündigt: Alexander Lukaschenko, Präsident von Belarus, kurz vor dem Ausbruch des Ukraine-Krieges im Februar 2022.
Gemeinsame Militäreinheit mit Russland angekündigt: Alexander Lukaschenko, Präsident von Belarus, kurz vor dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs im Februar 2022. Foto: dpa/AP

Die junge belarussische Menschenrechtlerin Viktoryia Andrukovic hat Opfern von Polizeigewalt in ihrem Land geholfen und politische Proteste gegen Präsident Alexander Lukaschenko mitorganisiert. Weil sie eine Verhaftung gefürchtet hat, musste sie Ende Februar heimlich ihr Heimatland verlassen.

Die 28-Jährige lebt heute in der litauischen Hauptstadt Vilnius und hilft der belarussischen Opposition im Exil.



Unser Redakteur Alexei Makartsev sprach mit Andrukovic über Lukaschenkos Rolle im Ukraine-Krieg, die Druckmittel Moskaus auf den Diktator in Minsk und den Kampf für Demokratie in ihrem Land.

Russland schickt gerade Panzer und Soldaten nach Belarus. Zu welchem Zweck bilden beide Länder eine gemeinsame Militärreinheit?
Andrukovic

Es werden Truppen in der Landesmitte zusammengezogen. In Belarus hat zudem heimlich eine Mobilisierung begonnen, angeblich nur, um die Wehrbereitschaft zu prüfen. In einigen Grenzregionen werden Mediziner benachrichtigt, dass sie bald benötigt werden könnten. Das ist beunruhigend. Bislang hören wir aber noch keine Kampfansagen, dass sich Belarus gegen einen vermeintlichen Überfall der Ukraine verteidigen soll. Der Druck aus Moskau ist hoch, doch ich denke nicht, dass der belarussische Herrscher Alexander Lukaschenko sich aktiv am russischen Krieg beteiligen will.

Das Außenministerium Ihres Landes hat erklärt, dass Belarus mithilfe von „präventiven Maßnahmen der strategischen Abschreckung“ seine Interessen verteidigen will. Was bedeutet das?
Andrukovic

Wir haben solche Erklärungen gehört, aber sie sind nicht mit einer Kriegserklärung gleichzusetzen. Im Februar war Belarus wohl bereit, gemeinsam mit Russland gegen die Ukraine loszuschlagen. Doch der missglückte russische Blitzkrieg hat die Militärs abgekühlt, die heute nicht bereit sind, in den Krieg zu ziehen. Anders als in Russland finden nur drei Prozent der Bevölkerung in Belarus das Vorgehen in der Ukraine gut. Lukaschenko weiß, dass die mobilisierten Menschen nicht gegen ihre Nachbarn kämpfen würden. Er hat außerdem große Angst, dass eine große Mobilmachung eine Protestwelle auslösen würde und will sich nicht in eine gefährliche Lage begeben. Darum tut der Herrscher in Minsk nur so, als wäre er bereit zum Kämpfen, in der Hoffnung, dass der Kreml ihn in Ruhe lässt.

Halten Sie eine neue russische Offensive gegen die Ukraine für möglich, die vom Territorium Ihres Landes ausgehen könnte?
Andrukovic

Ja. An der Grenze könnte bis zum Jahresende eine neue Frontlinie entstehen. Wir haben bereits gesehen, dass nach der Sprengung der Krim-Brücke einige Raketenangriffe vom belarussischen Staatsgebiet aus erfolgt sind. So wie es aussieht, soll mein Land erneut zum Aufmarschgebiet und Trainingslager für russische Truppen werden. Und wenn es dann eine neue Offensive gibt, werden belarussische Einheiten unterstützend wirken und für die Russen das Hinterland sichern.

Bei der jüngsten UN-Abstimmung haben sich vier Länder geweigert, die Annexion von ukrainischen Gebieten durch Russland zu verurteilen. Einer der Gegner war Belarus. Welche Druckmittel hat Wladimir Putin, um Lukaschenko auf Kurs zu halten?
Andrukovic

Das Regime in Minsk war und ist abhängig von Russland, wirtschaftlich wie politisch. Lukaschenko verdankt Putin seine Macht und fühlt sich Moskau gegenüber zur Hilfe verpflichtet, weil die russische Führung ihn in der Zeit der öffentlichen Proteste in Belarus 2020 gestützt hat. Damals haben wahrscheinlich die Sondereinheiten der russischen Polizei dem Präsidenten geholfen, die Demonstranten niederzuknüppeln. Ich denke, dass es eine Abmachung zwischen Putin und Lukaschenko gibt, wonach Russland bei erneuten Protesten helfen würde. Im Prinzip könnte Putin Lukaschenko als Gegenleistung dazu zwingen, gemeinsam mit ihm in den Krieg zu ziehen.

Die belarussischen Regimegegner haben früher Anschläge gegen Bahnlinien verübt, um den Nachschub für russische Truppen zu unterbrechen. Finden solche Aktionen noch statt?
Andrukovic

Nein, das Regime hat diesen Widerstand gebrochen. Viele Menschen sind nach solchen Aktionen als „Terroristen“ in Gefängnissen gelandet. Sie könnten nach einem neuen Gesetz sogar hingerichtet werden. Das erzeugt Angst und zwingt andere Gegner Lukaschenkos, aus dem Land zu fliehen. Im Moment findet der Widerstand im Verborgenen statt, so sammeln einige Aktivisten Informationen über militärische Lager, Standorte von russischen Einheiten und Ankünfte neuer Truppen, um diese Daten später weiterzuleiten. Darüber hinaus sehe ich keine Guerilla-Aktivitäten. Das könnte sich aber ändern, wenn sich Belarus dem Krieg anschließen würde.

Vor zwei Jahren gingen viele Belarussen in einem friedlichen Protest auf die Straße, warum sehen wir heute keine Anti-Kriegsproteste in Ihrem Land?
Andrukovic

Es gab Proteste im Februar, aber sie haben nicht lange gedauert. Die Staatsmacht hat seit 2020 viel dazugelernt, wie sie solche Demonstrationen schnell auseinandertreiben kann. Auch die Propaganda funktioniert besser als früher. Es gibt keine Anführer in Belarus, die größere Proteste lenken könnten. Die Zivilgesellschaft ist zerstört, die Opposition im Exil. Regimekritische Medien gelten als terroristisch, und manche Menschen haben Angst, sie zu lesen. Neben dieser Angst gibt es auch eine Müdigkeit in der Bevölkerung, die sich teilweise mit den politischen Verhältnissen abgefunden hat.

Viele Russen wollen nicht im Krieg kämpfen, doch sie unterstützen Putin. Welchen Rückhalt hat Lukaschenko unter seinen Landsleuten?
Andrukovic

Er kann sich auf 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung stützen. Das sind vor allem ältere Menschen, die keinen Zugang zu unabhängigen Nachrichtenquellen haben und dem Regime treu sind. Weitere 30 Prozent sind gegen Lukaschenko, doch sie sind nicht geeint und müssen sich vor dem repressiven Staatsapparat verstecken. Der Rest ist kritisch gestimmt, aber passiv, frustriert und von der Politik enttäuscht.

Ist eine neue Protestwelle in Belarus möglich, wenn Russland eine militärische Niederlage erleiden und seine politischen Ziele in der Ukraine verfehlen sollte?
Andrukovic

Ja, absolut. Sollte Russland in der Ukraine scheitern, wäre dies nicht nur für Belarus, sondern auch für andere Länder Osteuropas ein großer Sieg. Er würde den Menschen Hoffnung auf Veränderungen geben und repressive Regimes wie in Minsk destabilisieren. Lukaschenko hat ein politisches System aufgebaut, das wir nicht von heute auf morgen austauschen könnten. Aber das Ende des Ukraine-Kriegs wird auch das Ende seiner Herrschaft einläuten.

Die Ukraine will einen eigenen Weg gehen, der in den Westen führt. Sehen Sie das Risiko, dass Belarus dauerhaft ein Verbündeter des autoritären Russlands bleiben wird?
Andrukovic

Lukaschenko ist eine Marionette Putins. Sein Land ist ein Satellit Russlands und wird es so lange sein, wie in Moskau ein autoritärer Herrscher an der Macht ist. Die derzeitige russische Führung würde es uns nie erlauben, ein demokratisches Land zu werden und sich dem Westen anzunähern – das zeigt das Beispiel der Ukraine. Aber das wird nicht ewig so bleiben.

Sie sind aus politischen Gründen nach Litauen geflohen. Haben Sie die Hoffnung, in absehbarer Zeit nach Hause zurückkehren zu können?
Andrukovic

Nein. Als ich Belarus verlassen habe, saß ich wie viele anderen Exil-Belarussen noch eine Weile auf gepackten Koffern und dachte, dass mein Leben im Ausland nicht lange dauern wird. Das hat sich geändert: Heute machen wir uns keine falschen Hoffnungen mehr. Natürlich würde ich gerne meine Familie wiedersehen. Aber wir sind zu allem bereit und haben uns auf einen langen Kampf eingestellt.

Lesetipp

Viktoryia Andrukovic: „Aufgewachsen in der letzten Diktatur Europas. Mut, Schmerz und Hoffnung – Der Kampf um Freiheit in Belarus“. Heyne Verlag, 176 S., 12,00 Euro.

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