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Karlsruherin im Staat Indiana

Zwischen Arroganz und Mitgefühl: USA in der Corona-Epidemie

Seit 30 Jahren lebt die gebürtig aus Karlsruhe-Neureut stammende Beate Gilliar in den USA - und hatte das Land längst in ihr Herz geschlossen. Dann kam das Coronavirus: Die Pandemie - und vor allem Präsident Donald Trumps Umgang damit - lassen sie heute sagen: "Noch nie habe ich mich so geschämt wie jetzt, in diesem Land zu leben."

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Besorgt über Corona-Krise: Die Karlsruherin Beate Gilliar lebt in den USA. Foto: pr Foto: None

Beate Gilliar sitzt in ihrem Wohnzimmer in North Manchester und schreibt eine E-Mail in ihre rund 7.000 Kilometer entfernte badische Heimatstadt. Die Nachrichten im Fernsehen sind auf stumm gestellt.

Sie will nicht wieder hören, wie US-Präsident Donald Trump sich damit brüstet, die Epidemie „sehr gut unter Kontrolle“ zu haben. Mit Unbehagen verfolgt Gilliar die laufende Nachrichtenzeile am Bildschirmrand: „Mehr als 748.000 Corona-Fälle, 42.000 Tote in den USA.“ Sie tippt verärgert auf der Computertastatur: „Noch nie habe ich mich so geschämt wie jetzt, in diesem Land zu leben.“

Karlsruherin lebt in North Manchester

Es dürfte ihr nicht leicht gefallen sein. Denn eigentlich mag die aus Karlsruhe-Neureut stammende Professorin das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in welches sie das Schicksal vor drei Jahrzehnten geführt hat. Als Literaturexpertin an der privaten Manchester University in Indiana hat sie einen guten Job.

Die 60-Jährige scheint bestens vernetzt zu sein und wird von ihren Studenten im Internet als leidenschaftlich, kreativ und „amazing“ beschrieben.

Alle aktuellen Entwicklungen zum Coronavirus im Überblick

Doch Corona hat einiges verändert im Leben von Beate Gilliar. Nicht nur, weil die Uni vor zwei Monaten schließen musste und ihr Alltag seitdem auf den Kopf gestellt ist. Sie sieht Amerika jetzt mit anderen Augen und mach sich Sorgen.

Maulkorb für die Wissenschaft

In ihrer E-Mail an die BNN geht die Einwanderin mit ihrer Wahlheimat hart ins Gericht: „Im Namen von Populismus wird der Wissenschaft der Maulkorb angelegt. Im Namen der Freiheit marschiert böswillige Inkompetenz in Form von bewaffneter Flaggenschau auf. Im Namen der Unschuld werden rechtswidrige und tödliche Fiktionen als Fakten entlassen.“

Wie ist das gemeint? In einem Telefonat vergleicht Gilliar die Niederlage der Medizinforschung im Kampf mit der dumpfen Corona-Ignoranz in den USA mit dem Bild einer Geisel, deren Hilferufe durch ein Klebeband auf ihrem Mund erstickt werden.

Alle Universitätskurse laufen online

Umgerechnet auf 100.000 Einwohner hat der Wabash County mit der Kleinstadt North Manchester derzeit etwa so viele Covid-19-Fälle wie der Landkreis Karlsruhe. Auch das öffentliche Leben ist ähnlich beeinträchtigt. „Die Museen, Kinos und Restaurants haben alle zu“, erzählt Gilliar. „Beim Einkaufen tragen alle Masken, und in der Uni laufen alle Kurse online.“

Die Hochschullehrerin verbringt nach eigenen Worten täglich bis zu acht Stunden in Videokonferenzen und vermisst die persönlichen Kontakte. „Es gab gerade per Video Abschied von Kollegen, die in den Ruhestand gehen“, sagt sie. „Dass wir nicht einmal mit einem Glas Wein anstoßen konnten, tat mir extrem leid.“

Studentin heuert bei Amazon an

Die traditionell wichtige Abschlussfeier in der 1889 gegründeten Uni wurde dieses Jahr auf Oktober verschoben – ein Schlag für die Studierenden, die jetzt laut Gilliar ohnehin schwierige Zeiten erleben, weil einige Familien kein Einkommen mehr haben. „Eine brillante Studentin hat deswegen in einem Verteilerzentrum von Amazon angefangen“, erzählt sie.

Die Welle von Pleiten und Entlassungen durch die Corona-Krise treffe das Land schwer. „Die Arbeit wird hier schon fast wie ein Privileg gesehen. Manche Menschen haben jetzt zwei bis drei Jobs, um sicher zu gehen, dass sie am Ende nicht ohne alles da stehen.“

Mit Waffen gegen Einschränkungen von Grundrechten

Die größten Sorgen macht der Karlsruherin jedoch der Wandel des gesellschaftlichen Klimas in den USA, eine „groteske Mischung aus Arroganz, Idiotie und mega-narzisstischem Denken“ infolge der Epidemie: „Es gibt Menschen, die mit Knarren in den Händen vor öffentlichen Gebäuden ihre verlorenen Freiheiten einfordern. Andere ignorieren die Gefahr durch Corona, weil sie angeblich durch das von Jesus vergossene Blut vor dem Virus geschützt sind.“

Dass jetzt sogar manche Studenten in den Gesprächen nach Sündenböcken für die Infektionswelle suchen und sich dabei auf Verschwörungstheorien beziehen, macht Gilliar sprachlos. Es werde noch schlimmer kommen, befürchtet sie. „Die Debatte über die Grundrechte hat noch nicht stattgefunden, und wir werden bis zur Wahl sicher noch Riesendiskussionen über das Waffenrecht haben“.

Trump übt auf viele "magische Wirkung" aus

Kein gutes Wort lässt die Professorin an Präsident Trump. „Er hat am Anfang Corona abgestritten und später die von Republikanern regierten Staaten mehr unterstützt als die demokratischen. Seine Selbstinszenierung ist jetzt vollkommen auf die kommende Wahl ausgerichtet.“ Sie findet es unbegreiflich, dass die Unterstützung für Trump trotz der steigenden Arbeitslosigkeit noch immer stark sei, selbst bei denjenigen, die am Existenzminimum lebten: „Er übt eine magische Wirkung aus.“

Sie findet Trost in der Literatur, ihrem Malhobby und der Erfahrung, dass in der Notlage die meisten Menschen in North Manchester einander mit offenem Respekt und Mitgefühl begegnen würden. „Es kommt vor, dass sich Fremde auf der Straße zuwinken oder ein Herz mit den Händen formen. Und man hört immer wieder diese Sätze: ,Gemeinsam schaffen wir das’ und ,Lasst uns nach vorne schauen’“.

Traum von der Reise nach Karlsruhe

Wenn alles vorbei ist, hofft Beate Gilliar, wird sie ein Flugticket kaufen und endlich wieder Karlsruhe besuchen. „Ich fühle mich mit Neureut fest verbunden“, sagt sie.

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