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Gefährliche Theorien?

Ursprünge von Aberglauben: „Menschen verlieren den Überblick und das macht ihnen Angst“

Heidrun Alzheimer ist Universitätsprofessorin für Europäische Ethnologie in Bamberg. Im Interview erklärt sie, warum Menschen auch in unserer aufgeklärten Zeit Aberglauben praktizieren.

Eine Person lässt sich von einer anderen Person aus der Hand lesen.
Woher kommt Aberglaube? Und was macht ihn heute noch attraktiv? Eine Volkskundlerin kennt sich aus. Foto: Sebastian Kahnert/ dpa

Schwarzen Karten, Unglückszahl 13, nicht mit dem linken Fuß aufstehen: Es gibt viele kleine Rituale, die Menschen trotz besseren Wissens aus Aberglauben praktizieren.

Heidrun Alzheimer, Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Bamberg, spricht im Interview über die Herkunft und Bedeutung dieser Mythen, warum nicht aller Aberglaube harmlos ist. Und was das zum Beispiel mit Verschwörungstheorien zu tun hat.

Die Volkskundlerin Heidrun Alzheimer forscht an der Universität unter anderem zu Aberglauben. Für sie ist dessen Verbreitung auch ein Zeichen der Ohnmacht vor einer komplexer werdenden Welt.
Die Volkskundlerin Heidrun Alzheimer forscht zu Aberglauben. Foto: Heidrun Alzheimer

Würden Sie unter einer Leiter hindurchlaufen oder sich auf einen Sitzplatz 13 setzen?
Heidrun Alzheimer

Ja, auf jeden Fall. Ich hatte erst neulich Handwerker im Haus; da ging das gar nicht anders. Da habe ich keine Sorge. Dass ich durch Magie mein Schicksal beeinflusse, daran glaube ich nicht. Eher an eigene Fähigkeiten und vielleicht auch gute Netzwerke. Und Sie?

Nun, ich stehe ungern mit dem linken Fuß auf. Bei Sportlern hört man da noch so einiges mehr an Ritualen…
Alzheimer

Oh ja! Das hatten wir ja jetzt erst wieder bei der WM: Tiere, die das Ergebnis vorhersagen, oder Spieler, die das Spielfeld grundsätzlich mit dem rechten Fuß zuerst betreten und so weiter…

Was ist das Verrückteste, das Ihnen in Sachen Aberglaube untergekommen ist?
Alzheimer

Zwei Dinge. Zum einen bin ich begeistert von der Herkunft des Wortes „Hokuspokus“. Das stammt nämlich von Ministranten in der Kirche, die die auf Latein gemurmelten Worte des Priesters bei der Wandlung nicht richtig verstanden haben – hoc est corpus meum. Das klang wie „Hokuspokus“. Eine andere Sache, die ich nur im muslimischen Kulturraum gefunden habe, ist die Regel, wonach man sich unter keinen Umständen am selben Tag Finger- und Fußnägel schneiden soll.

Also ist Aberglaube ulkig, aber harmlos?
Alzheimer

Wir müssen da unterscheiden. Wenn Sie Gänseblümchen als Liebesorakel zerpflücken oder Angst vor einer schwarzen Katze haben, ist das harmlos. Wenn Sie aber einen Linkshänder zum Rechtshänder umerziehen wollen, weil die rechte Seite als die richtige, gute, gottgewollte gilt, ist das schon problematisch. Oder wenn Sie mit einer Krebserkrankung statt zum Arzt zum Wunderheiler gehen; das finde ich dann nicht mehr so harmlos.

Was ist überhaupt Aberglaube aus Sicht der Wissenschaft?
Alzheimer

Eine meinungsbildende Macht, sei es Kirche oder Politik, setzt einen Standard. Und alles, was dagegen ist, ist erst einmal Aberglaube. Wir unterscheiden drei Arten von Aberglauben: das Zeichenhafte wie die Schwarze Katze, die Vorhersage wie Wahrsagerei oder das Aus-der-Hand-Lesen, und das Wirksame, also die Zauberei zum Beispiel oder Gebete, die etwas Konkretes bewirken sollen.

Was ist dran an dem Mythos, dass das noch von den Germanen stammt?
Alzheimer

Ja, das wird oft behauptet, dass solche Bräuche aus dunkler Vorzeit von den Kelten oder Germanen stammen. Aber Kelten und Germanen haben keine Quellen dazu hinterlassen. Wir kriegen das also nicht mehr raus. Aber vieles hat einen anderen, erklärbaren Ursprung, und den herauszufinden, ist Aufgabe der Wissenschaft. Die Zahl 13 zum Beispiel ist eine Unglückszahl, weil beim letzten Abendmahl der 13. im Bunde der Verräter Judas war. Vielleicht aber auch, weil im Duodezimal-System die Zahl die erste überflüssige nach der Zwölf ist. Noch in meiner Jugend waren Wörter wie Dutzend oder Schock alltäglich.

Und wo kommt dann der Germanen-Mythos her?
Alzheimer

Früher galt der Glaube in der Wissenschaft, auch in der Volkskunde, dass Aberglaube vom Volk ausging und aus Urzeiten stammte. Und wer war schuld? Die Brüder Grimm. Die waren ja nicht nur Geschichtensammler, sondern auch Sprachwissenschaftler und haben zum Beispiel angefangen, das Althochdeutsche zu rekonstruieren. Sie dachten, so wie man das mit der Sprache macht, kann man das auch mit Mythen machen; für die Grimms war Aberglaube eine Schwundstufe germanischer Mythologie. 1942, mitten in der Nazi-Zeit, hat ein Schweizer Wissenschaftler dann ein „Handbuch des deutschen Aberglaubens“ herausgegeben und diese These untermauert. Das wird heute noch gerne gelesen und gehört eigentlich in den Giftschrank.

Apropos Nazis: Wir leben heute in einer aufgeklärten, auf Naturwissenschaft basierenden Welt. Und doch scheint der Aberglaube auf dem Vormarsch, gerade auch Verschwörungsmythen. Wie passt das zusammen?
Alzheimer

Das hängt vielleicht mit der Komplexität unserer Welt zusammen. Die Menschen verlieren den Überblick und das macht ihnen Angst. Mit Verschwörungstheorien versuchen sie, die Kontrolle zurückzugewinnen. Das sind immer sehr simple Modelle, schwarz und weiß. Nicht selten ist das auch mit Ritualen gekoppelt, die Halt geben, wie Leitplanken.

Ist das also ein neues Phänomen? Oder gab es das schon einmal, zum Beispiel beim Hexenwahn in Bamberg?
Alzheimer

Man kann schon sagen, dass da vergleichbare Dinge passiert sind. Menschen, die schwer Kranke mit Kräutern heilen konnten, schienen verdächtig; sie wurden schnell als Hexen diffamiert. Und die Angst vor monströsen Krankheiten wie der Pest, die man nicht verstand, kann schnell zu solchem Aberglaube führen. Man suchte Sündenböcke, erst die Juden, dann die Hexen.

Gerade in Bamberg, wo Sie lehren, kam es ja zu einer regelrechten Raserei mit hunderten Toten. Wie kann so etwas entstehen?
Alzheimer

In Bamberg lag es an den richtigen Wortführern. Wenn die einflussreich sind, kann es schnell zu einem Massenphänomen werden. Eigentlich ist das genau so wie heute.

Aber damals gab es noch keine sozialen Medien…
Alzheimer

Aber Flugblätter, Prodigien. Wenn zum Beispiel ein siamesischer Zwilling auf die Welt kam, ist das ausgeschlachtet worden. Natürlich ist das kein Vergleich zum Tempo der sozialen Medien. Da kann jeder schreiben, was er will. Manche haben enorme Reichweite, die Nutzer schaukeln sich dann in Diskussionen gegenseitig hoch.

Wie kann man dem denn Herr werden? Außer mit der GSG9?
Alzheimer

Man wird es nicht abstellen können. Es wird immer Leute geben, die abstrusen Vorstellungen anhängen. Man kann nur aufklären, aufklären, aufklären.

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