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Projekt gegen das Tabu

Gewalt gegen Frauen: Karlsruher Schülerinnen gewinnen Einblick in eine verstörende Realität

Junge Frauen aus der Stadt und der Region gehen neue Wege, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Sie machen das Tabuthema präsent und erreichen, dass manche Betroffene ihr Schweigen bricht.

Schülerinnen und eine Lehrerin zeigen vor Stellwänden Exemplare des Heftes „Frauen-Armut“.
Schülerinnen der Elisabeth-Selbert-Schule bringen, unterstützt durch Pädagogen wie die Lehrerin Ute Reitermann (Zweite von rechts), die Dimension von Gewalt gegen Frauen ins Bewusstsein. Foto: Kirsten Etzold

Diesen Novembertag wird Mona, 19 Jahre alt, nicht vergessen. An diesem Tag hängt sie mit einer Mitschülerin Plakate ins Foyer der Elisabeth-Selbert-Schule. Es geht um den Orange Day, die weltweite Aktion, die auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam macht. Plötzlich stellt sich eine junge Frau dazu. „Sie hat uns erzählt, wie ihr Ex-Freund sie gewürgt und misshandelt hat“, erinnert sich die 19-Jährige aus der Karlsruher Südweststadt.

Der kurze Einblick in eine verstörende Realität berührt sie tief. Es bleibt bei dem Fragment, keine Chance auf Antworten: „Ich weiß nicht, wie sie heißt oder in welche Klasse sie geht.“

Gewalt gegen Frauen ist auch in und um Karlsruhe allgegenwärtig – Sarah Streckfuß weiß es seit ihrer Kindheit. Die 18-jährige Schülerin aus dem Karlsruher Stadtteil Rüppurr hat viele Geschwister auf Zeit: Ihre Mutter nimmt regelmäßig Kinder in Bereitschaftspflege. Das ist eine Möglichkeit, Kinder vor häuslicher Gewalt in der Familie zu schützen.

Oft sind die Frauen zu den gewalttätigen Männern zurückgegangen.
Sarah Streckfuß
Schwester auf Zeit für Pflegekinder

„Oft sind die Frauen zu den gewalttätigen Männern zurückgegangen“, erzählt die junge Karlsruherin. „Sie konnten keinen guten Weg finden.“

Weltfrauentag ist an der Schule alles andere als Formsache

In der Elisabeth-Selbert-Schule ist der Weltfrauentag am 8. März alles andere als Formsache. „Wir sind so viele Frauen hier“, sagt die stellvertretende Schulleiterin Karin Aschauer. „Da ist es uns ein großes Anliegen, die Frauen zu vertreten.“

Wir wollen erreichen, dass unsere Schülerinnen ihre Rechte und Chancen wahrnehmen.
Reiner Stadelmann
Schulleiter

Wie stark Bildung und die Rechte von Frauen miteinander verknüpft sind, betont der Leiter der Elisabeth-Selbert-Schule (ESS), Reiner Stadelmann. „Wir wollen erreichen, dass unsere Schülerinnen ihre Rechte und Chancen wahrnehmen.“

Schülerinnen-Team fragt: Siehst Du mich?

Junge Menschen aus mehr als 50 Nationen, unterschiedliche kulturelle Prägungen, Religionen und persönliche Erfahrungen – das ist die Schulgemeinschaft der großen Bildungseinrichtung an der Steinhäuser Straße. Mit den Aktiven des schuleigenen Sozialvereins Y-ESS hat Fabian Frank für den Weltfrauentag wieder Stellwände im Schulfoyer bestückt. Frank ist Vorstand des Sozialvereins und in Ausbildung zum Schul-Seelsorger.

„Siehst Du mich?“, fragen die Aktionsplakate. Keine Ausbildung. Zu wenig Einkommen für den Lebensunterhalt. Ein gewalttätiger Partner. Alleinerziehend ohne Perspektive. Das sind typische Risiken für Frauen, regelrechte Fallen, in die sie geraten. Auch in Karlsruhe.

Wir haben hier definitiv Frauen mit Gewalterfahrungen.
Ute Reitermann
Lehrerin

Ute Reitermann unterrichtet angehende Altenpflegerinnen an der Elisabeth-Selbert-Schule. „Wir haben hier definitiv Frauen mit Gewalterfahrungen“, sagt sie. Direkte Gespräche darüber seien selten. Einen konkreten Fall kennt sie, die Betroffene habe in ihrem Heimatland erfolglos Strafanzeige gestellt. „Sie schafft jetzt bei uns mit Kind die Ausbildung.“

Reitermann ist auch Mitglied im Zonta Club Karlsruhe. Frauen durch Bildung aus der Klemme und zu Selbstbewusstsein zu verhelfen, sei der aktuelle Ansatz von Zonta und auch in der Schule.

„Es geht um Frauen in Abhängigkeit“, sagt die Lehrerin. Das sei nicht begrenzt auf bestimmte Zusammenhänge, betont sie: „Das ist in privilegierten Karlsruher Wohnvierteln auch nicht anders.“

„Gewalt gegen Frauen ist leider real und allgegenwärtig – weltweit, in Deutschland, in unserer Stadt und sogar in der Nachbarschaft“, erklären die Schülerinnen. Aktuell planen sie Besuche der Beratungsstelle des Frauenhauses des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) Karlsruhe sowie des Frauencafés Mariposa in der Adlerstraße, das der Verein The Justice Project für Frauen in der Prostitution und Zwangsprostitution betreibt.

„Gewalt gegen Frauen ist ein großes Thema, auch hier“, sagt Chiara Noto aus Rheinstetten. „Vielen ist nicht bewusst, wie präsent es ist“, betont Rojin Korkmaz aus der gleichen Gemeinde.

Wir zeigen, dass keine Frau damit allein ist und dass man Hilfe holen kann.
Lotte Schmidt
Schülerin

„Wir zeigen, dass keine Frau damit allein ist und dass man Hilfe holen kann“, sagt Lotte Schmidt aus Leopoldshafen, die nur zu gut, weiß, wovon sie spricht: „Natürlich bin ich schon sexuell belästigt worden, auch bei Tag, an Haltestellen zum Beispiel.“

Aurelia aus Karlsruhe-Neureut ist es wichtig, „dass wir uns in diesem Projekt für alle Frauen engagieren“. Alicia Rivas aus Rheinstetten kritisiert, das Thema sei immer noch weitgehend tabu: „In Spanien wird stark darüber aufgeklärt, sagt unsere Spanischlehrerin. Das sollte man sich zum Vorbild nehmen.“

„Gewalt gegen Frauen, das ist mehr als körperliche Übergriffe“, unterstreicht Mona. Gina Krieg aus Remchingen-Singen ist das aus eigener Erfahrung bewusst. Viele Male sei sie in ihrem Ort als „dumme Feministin“ beschimpft worden. Dann tritt das Furchtbarste ein: Eine Frau aus dem Bekanntenkreis verliert die Tochter. Sie wird in Heidelberg von ihrem Ex-Freund ermordet. „Solche Fälle“, sagt Krieg, „gibt es immer wieder. Das ist Femizid.“

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