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Interview

Sinti und Roma: „Nicht aus Gründen der Rasse verfolgt“?

Sinti und Roma wurden im Dritten Reich verfolgt, deportiert und vernichtet. Doch die Stigmatisierung dieser Minderheiten hörte auch nach dem Fall der Nazi-Diktatur nicht auf.

Ein altes Foto von verschneiten Gleisen
Zahlreiche Sinti und Roma wurden während der nationalsozialistischen Diktatur verschleppt und ermordet. Doch Überlebende und Hinterbliebene mussten nach 1945 oft jahrzehntelang um Entschädigung kämpfen. Foto: dpa

Sie wurden während der nationalsozialistischen Diktatur entrechtet, rassenbiologisch erfasst, zwangssterilisiert, deportiert und ermordet – Sinti und Roma.

Doch den Überlebenden und Hinterbliebenen verweigerte die junge Bundesrepublik lange die rechtliche und moralische Anerkennung. Über Jahrzehnte hinweg blieb der Völkermord an Sinti und Roma vom öffentlichen Gedenken ausgeschlossen.

Vanessa Hilss hat im Generallandesarchiv über die Entschädigungspraxis am Landesamt für Wiedergutmachung Karlsruhe geforscht. Dabei stachen der jungen Historikerin üble Kontinuitäten beim Umgang mit den damals als „Zigeunern“ bezeichneten Menschen ins Auge.



Eine Frau schaut in die Kamera
Vanessa Hilss hat für die ihrer Zulassungsarbeit am Generallandesarchiv Karlsruhe Akten über die Ermordung von Sinti und Roma nach 1945 studiert. Foto: abw



Frau Hilss, der „bundesdeutsche Umgang mit der nationalsozialistischen Verfolgung von Sinti und Roma nach 1945“ war das Thema Ihrer Zulassungsarbeit. Woher kam das Interesse? Oder wurde Ihnen das Thema von der Universität Heidelberg vorgegeben?
Hilss

Nein, das war meine Idee. Mit dem Nationalsozialismus habe ich mich ja schon länger beschäftigt – im Rahmen von studentischen Hilfskraftstellen. Und dann habe ich ein Praktikum im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg gemacht …

… das es noch gar nicht so lange gibt.
Hilss

Ja, es wurde erst 1997 eröffnet. Dort habe ich mich eigentlich zum ersten Mal näher mit der Verfolgtengruppe der Sinti und Roma befasst. Sie sind ja in der Öffentlichkeit nicht so präsent wie andere Verfolgtengruppen. In dem Zusammenhang habe ich mich auch mit der Entschädigungspraxis nach 1945 beschäftigt. Dabei ist mir aufgefallen, dass das ein sehr interessantes und wichtiges Thema ist, das sehr viel mit der Gegenwart zu tun hat.

Die Geschichtswissenschaft hat Sinti und Roma als Verfolgtengruppen der NS-Zeit lange Zeit kaum beachtet. Und die Entschädigung der Opfer wurde noch später zum Thema. Woran liegt das?
Hilss

Ich denke, das hängt zum sehr großen Teil mit der Kontinuität der Stigmatisierung der Minderheit zusammen, die bis in die 50er, 60er und 70er-Jahre und auch darüber hinaus anhielt. Dass ihnen als Kollektiv bestimmte, meist negative Eigenschaften zugeschrieben wurden. Zum Beispiel ein besonderer Hang zur Kriminalität. Ich nehme an, dass diese Vorstellungen unter vielen Historikern ebenso verbreitet waren wie bei Richtern, Politikern, Behördenmitarbeitern – und sehr stark bei der Polizei.

Oft verwies man ja darauf, dass viele Sinti und Roma Vorstrafen gehabt hätten …
Hilss

Natürlich gab es Personen, die Vorstrafen hatten. Dazu muss man aber wissen, dass Sinti und Roma aufgrund von Gesetzen und Erlassen aus der NS-Zeit und auch schon aus der Weimarer Republik viel schärferen Bestimmungen unterworfen waren als andere Leute. Manche waren etwa vorbestraft, weil sie ohne besondere Genehmigung gereist waren oder ein Tier mit sich geführt hatten.

Sie halten am Dienstag, dem 12. Dezember 2017, im Generallandesarchiv einen Vortrag. Zum Titel des Referats und auch Ihres Buches über Sinti und Roma gehört die Frage „Nicht aus Gründen der Rasse verfolgt“? Warum?
Hilss

Das ist eigentlich der entscheidende Satz. Deswegen habe ich ihn in den Titel aufgenommen, auch wenn er etwas sperrig klingt. Das betrifft die Entschädigungsberechtigung, wie sie im Bundesentschädigungsgesetz festgelegt ist. Die berechtigten Opfergruppen werden darin nicht explizit genannt.

Sondern?
Hilss

Ein Recht auf Entschädigung hatten diejenigen, die wegen ihrer Rasse, Religion oder politischen Haltung verfolgt wurden. Wenn nun die Behörden oder Gerichte argumentierten, dass die betreffenden „Zigeuner“ – bitte in Anführungszeichen – wegen ihrer „asozialen“ oder „kriminellen“ Haltung und eben „nicht aus Gründen der Rasse“ deportiert worden seien, hatten sie keinen Anspruch auf Wiedergutmachung. 1956 erging in Karlsruhe ein höchstrichterliches Urteil des Bundesgerichtshofs. Demnach hätte es sich bei den Deportationen von „Zigeunern“ und „Zigeunermischlingen“ im Jahr 1940 in Ghettos und Konzentrationslager im besetzten Polen nicht um rassische Verfolgung, sondern um eine übliche polizeiliche Präventivmaßnahme gehandelt.

Das ist paradox, wenn man bedenkt, dass damals ganze Familien verschleppt wurden, auch Säuglinge und Kinder. Und dass „Rasse-Gutachten“ erstellt wurden. Eine Verfolgung aus Gründen der Rasse nahm man jedoch nur bei denjenigen an, deren Deportation ab 1943 – nach Himmlers „Auschwitz-Erlass“ – erfolgte.

Welche Folgen hatte das für die Opfer?
Hilss

Gravierende. Eine Frau, Henriette Weiss, mit deren Akten ich mich beschäftigt habe, wurde 1940 in Karlsruhe rassenbiologisch untersucht und mit ihrer Familie über das Sammellager Hohenasperg in verschiedene Lager verschleppt. Eine Entschädigung für ihre Verfolgung in den drei Jahren von 1940 bis 1943 wurde ihr erst 1968 zugesprochen. Das war, nachdem der Bundesgerichtshof 1963 seine Rechtsprechung geändert hatte. Leute, deren Antrag auf Entschädigung wegen des höchstrichterlichen Urteils zuvor abgewiesen worden war, konnten jetzt einen neuen Antrag stellen. Aber für viele war es längst zu spät.

Gab es denn auch personelle Kontinuitäten? Welche Rolle spielte etwa die Kriminalpolizei?
Hilss

Da gab es sehr starke personelle Kontinuitäten. Mit der „Bekämpfung der Zigeunerplage“ war in der NS-Zeit vor allem die Kriminalpolizei betraut. Sie wurde später als eine „vom Regime missbrauchte“ Organisation eingestuft. Mit der Folge, dass viele Beamte nach 1945 wieder in ihrem alten Bereich tätig waren. Was dann dazu führte, dass Sinti und Roma weiter kriminalisiert wurden.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Hilss

Da ist etwa Paul Werner aus Appenweier. Er wurde 1933 Leiter des Badischen Kriminalamtes und wechselte 1937 ins Reichskriminalpolizeiamt nach Berlin, wo er am Konzept der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ mitwirkte – es bildete die Grundlage für die massenhafte Einweisung von Sinti und Roma in Konzentrationslager. Werner wurde später Beamter im Baden-Württembergischen Innenministerium und brachte es zum Regierungsdirektor.

Im Jahr 2014 hat eine Studie noch immer starke Vorbehalte gegen Sinti und Roma dokumentiert. Jeder Dritte hatte bei einer Befragung geantwortet, dass er nicht neben einem Angehörigen dieser Minderheit wohnen wolle. Welche Reaktionen erleben Sie, wenn Sie über das Thema ihrer Forschungen sprechen?
Hilss

Aufgrund meiner Zulassungsarbeit habe ich auch in meinem persönlichen Umfeld viele Gespräche gehabt. Da gab es sehr viele Diskussionen. Denn über Sinti und Roma sind noch viele Klischees verbreitet, die zum Teil wirklich aus der frühen Neuzeit stammen. Da ist dann zum Beispiel vom Kinderdiebstahl die Rede. Oder man schreibt Sinti und Roma pauschal eine höhere Neigung zur Kriminalität zu. Ich glaube, es wird nicht genug reflektiert, dass etwa die Armut, die viele Roma vor allem in Osteuropa betrifft, in vielen Fällen noch eine Folgeerscheinung der Verfolgung und gerade auch der ausgebliebenen Entschädigungen und teilweise bis heute anhaltenden Diskriminierung ist. Deswegen finde ich es so wichtig, sich mit dem Thema zu befassen. Weil es eben nicht nur Geschichte ist, sondern auch Gegenwart.

Buchtipp

Die Ergebnisse von Vanessa Hilss’ Zulassungsarbeit kann man in dem Buch „Sinti und Roma – Nicht aus Gründen der Rasse verfolgt? Zur Entschädigungspraxis am Landesamt für Wiedergutmachung Karlsruhe “ nachlesen. Es ist als Band 17 der Forschungen und Quellen zur Stadtgeschichte in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe erschienen (168 Seiten, Lindemanns Bibliothek, Info-Verlag, 14,80 Euro).

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