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Hobby: Extremläufe

Ich rannte über die Alpen und besiegte mich selbst

Pascal Schütt hat noch keinen Marathon bestritten. Dann läuft der BNN-Redakteur 250 Kilometer über die Alpen. Was das mit ihm gemacht hat.

Ein Läufer in den Bergen
Beim Transalpine Run ging es für BNN-Redakteur Pascal Schütt hoch hinaus. Geplant waren mehr als 16.000 Höhenmeter. Coronabedingt fiel allerdings eine Etappe aus, sodass unter dem Strich ein paar weniger stehen. Foto: Katrin Jensen

Keinen Schritt will mein Körper weiter. Die Lunge brennt. Die Schenkel zucken. Der Magen rumort. Alle drei diskutieren mit mir. 20, 30 Sekunden, vielleicht sogar eine Minute. Schnaufend passieren mich ein paar junge Männer und eine ältere Frau. Dann treffe ich eine Entscheidung.

Rückblick: 2019 reift der Gedanke, der mich vom gelegentlichen Alltags- zum Hobby-Extremläufer macht. Ich will den „Transalpine Run“ (TAR) bestreiten: acht Etappen, 260 Kilometer, 16.000 Höhenmeter bergauf. Nicht um als Erster ins Ziel zu stürmen, um eine Bestzeit zu laufen oder um andere zu schlagen. Ich will mich selbst schlagen, will die Tortour überstehen, irgendwie „finishen“.

Früher stand ich in Karlsruhe im Fußball-Tor – weil ich nicht laufen wollte

Ernst nimmt mich damals niemand. Freunde lächeln. Meine Frau glaubt an erste Anzeichen einer Lebenskrise. Ich, der sich als Jugendlicher ins Fußball-Tor gestellt hat, weil er nicht so viel laufen wollte? Der erst in seinen späten 20ern das Joggen für sich entdeckt hat? Der bislang kaum mehr als einen Halbmarathon gelaufen ist? Ja, ich.

Die größte Hürde – das wird mir schnell klar – ist gar nicht die extreme Lauf-Woche mit ihren beängstigenden Zahlen. Es ist der Weg dorthin. Wie so viele Frauen und Männer kann ich nicht mein ganzes Leben danach ausrichten. Ich kann mich nicht einfach an die Startlinie stellen. Ich muss vorher viele Trainingsstunden in den Alltag integrieren, irgendwo zwischen Arbeit, Partnerin und kleinen Kindern. Kann das klappen? Mit dieser Frage bin ich konfrontiert. Die Antwort ist kompliziert.

Ein Läufer sitzt auf einem Stein
Den ein oder anderen Tiefpunkt gilt es auf der Strecke zu überwinden. Foto: Katrin Jensen

Und sie führt mich schließlich im Spätsommer 2021 auf den kargen Granitblock in 2.000 Metern Höhe. Im Süden ragt der Mohnenfluh in den Vorarlberger Himmel. Hier soll, nein hier darf meine Reise nicht enden. Das letzte Wort haben nicht Lunge, Magen und Schenkel. Es ist die erste Krise nach kaum 30 von 260 Kilometern. Wie soll das enden?

Ich schiebe die Frage zur Seite. Die Scharte ist mein Zwischenziel. Danach geht es für heute nur noch bergab, rund fünf Kilometer ins Tagesziel in Lech am Arlberg. In diesem Moment klingt das unendlich weit. Jeder Schritt wird zum Kampf gegen den inneren Schweinehund, ich zähle quälend langsam vergehende Minuten. Aber irgendwann bin ich da. Am Ende des ersten von acht extremen Tagen.

Großes Opfer für die Familie – und trotzdem nicht genug

Ein dreiviertel Jahr früher bin ich hoch motiviert. Ich habe mich tatsächlich angemeldet. Ich schnüre meine Laufschuhe, wann immer es geht. Mal laufe ich an einem nasskalten Januar-Morgen um 5.30 Uhr. Mal bin ich nach 22 Uhr unterwegs, wenn das Baby und die Zweijährige endlich schlafen.

Am Wochenende zieht es mich ins Albtal, den Nordschwarzwald oder die Pfälzer Berge. Erst zwei Stunden, später im Jahr auch drei, vier oder fünf. Bei Regen, bei Schnee, bei 35 Grad. In manchen Wochen laufe ich jeden Tag, komme auf über 120 Kilometer, mehrfach nur fürs Training auf eine Marathon-Distanz. Das bedeutet für uns alle viel Verzicht und beschert mir häufig ein schlechtes Gewissen. Trotzdem reicht es nicht.

Eigentlich war der Traum schon geplatzt

Ich halte meinen Trainingsplan nicht ein. In vielen Wochen laufe ich nicht oft genug und nicht weit genug. Ich bin frustriert, habe das Gefühl, meine Tage sind einfach zu kurz, obwohl ich zu wenig schlafe. Immer wieder kommt etwas dazwischen. Manchmal stehe ich mir auch selbst im Weg. Mein geplanter Laufpartner – den TAR darf man damals nur als Team bestreiten – ist deutlich disziplinierter, deutlich schneller. Irgendwann fällt daher die Entscheidung: Das macht keinen Sinn. Der Traum ist für dieses Jahr geplatzt.

Im Frühsommer 2021 falle ich in ein mentales Loch. Tagelang bewege ich mich kaum mehr als ins Büro und zurück. Die Laufschuhe setzen Staub an. Ich zweifle an mir, bin nicht sicher, ob ein zweiter Anlauf zwölf Monate später infrage kommt. Extreme Läufe entscheiden sich im Kopf, sogar wenn man gerade nicht läuft. Dann bringt mich eine Nachricht ins Grübeln.

Vom Sofa in die Berge: Warum ich trotzdem gestartet bin

Über Instagram hat mich eine TAR-Teilnehmerin angeschrieben. Katrin und ich kennen uns nicht persönlich, aber sie sucht dringend Ersatz für ihre ausgefallene Laufpartnerin. Ich sage spontan zu, verdränge das fehlende Training der vergangenen Wochen – vermutlich nur, weil ich mir keine Zeit zum Nachdenken lasse.

Ein Läufer vor Bergen
Kurze Verschnaufpause mitten im Hochgebirge Foto: Katrin Jensen

Wenige Tage später sitze ich also in Lech im Zielbereich. Die Schuhe habe ich ausgezogen. Ich kann nichts essen, alles tut weh. Ich blicke in glückliche Augen, aber auch auf geschundene Körper und in schmerzverzerrte Gesichter. Warum tue ich mir das an? Die Frage stellen sich offensichtlich einige. Es ist ein Gemeinschaftsgefühl, das in der Luft liegt. Jeder weiß, was der andere geleistet hat. Am nächsten Morgen stehen alle wieder am Start. Auch ich, zusammen mit Katrin. Nicht mehr erschöpft, sondern euphorisch.

Viele Stunden verbringe ich in den folgenden Tagen in den Alpen, stampfe schnaufend steile Wanderwege hinauf, springe über Geröllfelder bergab, jogge über Hirtenpfade, laufe ins Ziel in St. Anton, in Galtür, in Klosters und in Scoul. Meinem Körper geht es von Tag zu Tag besser, ich habe aus den Fehlern der ersten Etappe gelernt. Zu schnell war ich unterwegs, zu den falschen Zeiten habe ich getrunken und gegessen.

Nie wieder so extrem, oder etwa doch?

Auf einem asphaltierten Radweg in Richtung Prad am Stilfser Joch spielen die Gefühle schließlich Achterbahn. Der letzte Anstieg liegt hinter Katrin und mir, das Ziel ist greifbar nah. Die nicht perfekte Vorbereitung, die Krisen, die Entbehrungen – alles ist vergessen. Wieder ist da die Frage: Warum tue ich mir das an? Die Antwort ist einfach: Deshalb. Ich bin glücklich und dankbar, gleichzeitig kaputt und voller Energie, demütig, stolz und sogar ein bisschen traurig.

Pascal Schütt und Katrin Jensen auf der Bühne
Strahlende Gesichter von Pascal Schütt und Laufpartnerin Katrin Jensen im Ziel des Transalpine Run mit ihren „Finisher“-Shirts Foto: Uwe Jensen

Welchen Platz wir belegt haben? Keine Ahnung. Ist auch egal. Ich habe zwei fiese Blasen an den Füßen, kann kaum Treppen steigen, habe drei Kilo abgenommen. Und trotzdem weiß ich schon beim Überqueren der Ziellinie: Das war nicht mein letzter Extremlauf. Und sicher auch nicht mein letzter Transalpine Run...

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