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Nachhaltiges Bauen

KIT-Professor Dirk Hebel: "Die Stadt wird in Zukunft ein riesiges Rohstofflager sein"

Junge Menschen demonstrieren „Fridays for Future“. Gleichzeitig haben viele Städte am Oberrhein den Klimanotstand ausgerufen. Dirk Hebel ist Professor für Nachhaltiges Bauen an der Architekturfakultät des KIT. Unser Redaktionsmitglied Ulrich Coenen hat mit ihm über die Zukunft des Bauens gesprochen. Für Hebel ist die gebaute Stadt ein riesiges Rohstofflager. Er spricht von einer „urbanen Mine“ und erklärt wie man diese ökologisch sinnvoll nutzen kann und wie Stadt und Häuser der Zukunft aussehen werden.

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Dirk Hebel ist Professor für Nachhaltiges Bauen an der Fakultät für Architektur des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Foto: Ulrich Coenen

Das Pyramiden von Gizeh sind 4.500 Jahre alt, der Aachener Dom als erstes bedeutendstes Steinbauwerk der nachantiken Zeit nördlich der Alpen 1.200 Jahre. Ist Architektur also nicht vom Grundsatz her nachhaltig?

Dirk Hebel: Diese Schlussfolgerung liegt auf den ersten Blick natürlich nahe, aber: Wir dürfen bei dieser Betrachtung nicht die Umstände ausblenden, unter denen diese Gebäude entstanden sind. Wir sprechen heute über drei akzeptierte Säulen der Nachhaltigkeit: die ökologische, die ökonomische, die soziale – und in der gebauten Umwelt sollten wir auch noch eine vierte hinzufügen: die ästhetische. Die ästhetische Komponente bei diesen Bauwerken ist natürlich exorbitant hoch. Wenn wir aber sehen, innerhalb welchen totalitären politischen Systemen und auch nachweislich unmenschlichen Bedingungen diese Gebäude zum Teil entstanden sind, können wir nicht mit gutem Gewissen von einer nachhaltigen Architektur sprechen. Man könnte sich aber auf den Begriff langlebig einigen, oder resilient, durchaus ein wichtiger Teilaspekt der Betrachtung.

Klimawandel ist zum wichtigen Thema geworden.
Dirk Hebel, Professor für Nachhaltiges Bauen an der Architekturfakultät des KIT

Das Fach Nachhaltiges Bauen ist noch relativ jung. Wo sehen sie die Schwerpunkte?

Hebel: Das Nachhaltige Bauen als eigenständige Fachdisziplin hat sich seit den 1980ern und 90ern Jahren entwickelt mit einem zunehmenden gesellschaftlichen Wandel hin zu einem ökologischen Bewusstsein, auch im Bauen. Zudem hat sich die Disziplin an unseren Hochschulen zuerst als Ingenieurdisziplin vor dem Hintergrund energetischer Fragen etabliert. Der Weg zeigt aber immer mehr auf ein gesamtdisziplinäres Verständnis von Architektur, Ingenieursdisziplinen, Ökonomie und Sozialwissenschaften im Nachhaltigem Bauen, weg vom Spezialistentum. Vermehrt werden Positionen zu diesem Thema inzwischen von ganzheitlich und interdisziplinär operierenden Gruppen und Personen besetzt und die Themen als gesellschaftlich relevant erachtetet und nicht mehr zum Nischendasein abgestempelt. Der Klimawandel, die Ressourcenfrage und auch zukünftige soziale Modelle und die Mobilitätsfrage sind zu wichtigen Themen im Nachhaltigen Denken, Handeln und Bauen geworden.

Der Bund Deutscher Architekten (BDA) hat im vergangenen Jahr ein Positionspapier „Das Haus der Erde“ verabschiedet. Es geht darin um eine „klimagerechte Architektur“. Im alltäglichen Baubetrieb ist das allerdings bislang nicht angekommen.

Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität ist in der Tat noch sehr hoch.
Dirk Hebel, Professor für Nachhaltiges Bauen an der Architekturfakultät des KIT

Hebel: Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität ist in der Tat noch sehr hoch und evident. Dennoch ist es wichtig, dass sich der BDA als Interessenvertretung unserer Disziplin mit relevanten Zukunftsfragen aktiv auseinandersetzt und diese auch einfordert. Deshalb sind solche Vorstöße extrem wichtig. Es ist schön zu beobachten, wie das Positionspapier von unserer Studierenden aufgegriffen wird und diese einzelne Thesen vermehrt als theoretische Grundlage für ihre Entwürfe heranziehen.

Ein grundlegendes Anliegen der Nachhaltigkeit ist der Erhalt und die Umnutzung des Bestands. Dennoch wird auf Teufel komm heraus abgerissen.

Hebel: Das Bauwesen ist ein wichtiger Bereich unseres kulturellen Zusammenlebens. Vor diesem Hintergrund müssen wir immer wieder abschätzen, welche ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekte für und wider einen Abriss sprechen. Oft wird leider nur auf die ökonomische Seite geschaut. Wenn wir jedoch betrachten, das zwischen 50 und 70 Prozent der grauen Energien (gespeichertes CO2) in den Tragwerken von Bestandsbauwerken stecken (je nach Bauart), müssen wir neue Kriterien anlegen und viel stärker die Auswirkungen des Neubaus versus eines Bestandumbaus betrachten. Unter diese Betrachtung fällt die derzeitige wichtige Diskussion um einen CO2 Preis. Wenn ich die CO2 Senke (das bestehende Tragwerk) erhalte, sollte es in Zukunft auch ökonomischer und im Hinblick auf unser Klima sozial verträglicher sein, innovativ mit Bestandgebäuden umzugehen. Dies ist doch unsere Kernkompetenz als Architektinnen und Architekten. Hier liegen unglaubliche, auch ästhetische Potenziale. Zudem entwickeln sich in der Gründerszene auch komplett neue Geschäftsmodelle, welche mit dem Material aus der urbanen Mine operieren. Über Jahrhunderte haben wir Materialien in unseren Bestandsgebäuden aufgetürmt. Wir müssen hierin eine Ressource sehen und kein Abbruchmaterial. Wir müssen Kreisläufe etablieren und Technologien entwickeln, diese Ressourcen zu bergen. Neue Geschäftsideen verlangen beispielsweise nur noch Geld für die Nutzung von Bauteilen, nicht mehr für den Besitz. Und nach Nutzung gehen diese Materialien wieder an die Hersteller zurück, da sie Verfahren entwickelt haben das Material – ihr Material – zu 100 Prozent zu rezyklieren und eben nicht zu entsorgen. Hier sprechen wir dann von einer Kreislaufwirtschaft, die keine neuen Ressourcen mehr braucht, sondern sich aus technischen und biologischen Kreisläufen bedient. Es bedingt hierzu aber Konstruktionsmethoden, die dieses sortenreine Ausbauen nach Nutzung auch erlauben. Und auch hier sind wir wieder bei unserer Kernkompetenz.

Reflektionslose Abrisse machen keinen Sinn.
Dirk Hebel, Professor für Nachhaltiges Bauen an der Architekturfakultät des KIT

In den Innenstädten und den alten Dorfkernen fallen in der Zeit der Wohnungsnot sehr oft hübsche Häuser aus der Zeit von etwa 1900 bis 1970. Sie müssen im Rahmen der Nachverdichtung deutlich größeren Neubauten Platz machen.

Hebel: Wie oben ausgeführt macht es bereits aus klimapolitischer Sicht keinen Sinn, diese Gebäude reflektionslos abzureißen. Viele unserer Bestandsgebäude stammen zudem aus der sogenannten „grauen Moderne“, einer Nachkriegsarchitektur, die in der Tat oft extrem flexible Strukturen und Grundrisse durch einfache Skelettbau-Konstruktionen generiert hat. Diese Gebäude sind flexibel und damit gut umnutzbar und ein wichtiger Teil der urbanen Mine.

Wie können wir uns die urbane Mine nutzbar machen?

Hebel: Wir arbeiten am Fachgebiet Nachhaltiges Bauen des KIT sehr intensiv in diesem Bereich. Es geht um die Frage, wie wir heute existierende Bauteile oder Materialien entweder wiederverwenden oder wiederverwerten können. Beim Wiederverwenden bleiben sowohl die Physiognomie wie auch die Stofflichkeit erhalten. Kann man beispielsweise ausgebaute Fassadenteile, Fenster oder Türklinken an einem anderen Ort wiederverwenden? In diesem Bereich gibt es in Europa eine wachsende Nachfrage und auch Firmen, die diese bedienen. So zum Beispiel die Firma Rotor DC aus Brüssel. Diese Firma nutzt die digitale Kommunikation, um noch auf Abrissbaustellen Auktionen für ausgebautes Material zu veranstalten oder bringt ausgebaute Türgriffe wieder in Baumärkte. Hier kann dann der Konsument entscheiden, ob er lieber einen neuen oder schon einmal gebrauchten Türgriff will, mit all seiner Geschichte und Benutzerspuren. Wenn ich diese Wahlmöglichkeit im Baumarkt habe, ist das Thema wirklich in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Das Wiederverwerten behält die Stofflichkeit, aber ändert die Physiognomie eines Bauteils. Ein schönes Beispiel hier ist die Firma Magna Glaskeramik aus Deutschland. Aus Brauchglas stellt diese Firma 20 Millimeter starke Platten her, die aus zusammengeschmolzenen Scherben bestehen und farblich getrennt eine ganz eigene Ästhetik aufweisen, in der die einzelnen Stücke noch sichtbar sind.

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Der Mehrwertpavillon auf der Bundesgartenschau Heilbronn entstand nach Plänen des KIT mit dem Büro 2hs komplett aus Recycling-Materialien. Foto: Zooey Braun

Hat das Fachgebiet Nachhaltiges Bauen am KIT bereits praktische Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt?

Hebel: Wir setzen extrem viele dieser Materialien in unseren Projekten um, zuletzt an der Bundesgartenschau in Heilbronn mit dem MehrWert Pavillon. Hier kam jedes der eingesetzten Materialien und Bauteile aus der urbanen Mine. Mit solchen Pilotprojekten wollen wir Freiräume schaffen und Möglichkeiten aufzeigen und damit eine politische Diskussion anstoßen. Brauchen wir nicht Anreize, um vermehrt kreislaufgerecht zu konstruieren?

Das klingt alles vielversprechend. Warum wird also so wenig recycelt?

Hebel: Ein Problem der jetzt existierenden gebauten Umwelt besteht darin, dass sie nicht sortenrein konstruiert wurde. Alle Materialien müssen aufwendig getrennt und sortiert werden. Oft gelingt das nicht durch enthaltende Kompositwerkstoffe oder Verklebungen und Beschichtungen. Daher müssen wir viele dieser Materialien nach wie vor ausschleusen und lagern, bis Technologien entwickelt wurden, um auch diese Ressourcen wieder nutzen zu können. Hier und jetzt müssen wir allerdings beginnen, eine neue gebaute Umwelt zu konstruieren, in der das sortenreine Schürfen kein Problem mehr darstellt. Dies wird letztendlich auch ökonomisch hochinteressant: Wir reden bei Neubauten immer über Investitionskosten, aber fast nie über den längsten Zeitraum einer Nutzung, nämlich den Betrieb, seine Kosten und letztendlich seinen Rückbau. Wir sollten ein Gebäude so planen, dass es im Unterhalt kostengünstig ist und im Falle eines Rückbaus wieder als städtische Mine Profit abwirft. Heute bezahlen wir für Abbruch und Entsorgung der Ressourcen. Das ist ökonomisch nicht sinnvoll oder nachhaltig.

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Innenansicht des Mehrwertpavillons Foto: Zooey Braun

Die Dämmung von Bestandsgebäuden bereitet oft Probleme. Schöne Fassaden werden mit Polystyrol verklebt. Das endet nach 30 Jahren vermutlich als Sondermüll.

Hebel: Sie sprechen wieder den kulturellen Wert und damit die Erscheinung und Physiognomie von Gebäuden an, die mit einem Einpacken verloren gehen. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir dieses Erbe erhalten können und gleichzeitig eine energetisch sinnvolle Ertüchtigung erzielen können. Es ist unser aller Aufgabe, Ideen und Strategien zu entwickeln, die beide Aspekte vereinen. Hier müssen wir einerseits über sinnige und maßvolle Dämmmöglichkeiten sprechen, aber auch der Frage nachgehen, wo und vor allem wie die Energie für den Unterhalt und Betrieb dieser Baudenkmäler gewonnen wird, auch auf Flächen außerhalb des eigentlichen Gebäudes. Generelle Rezepte einer flächendeckenden Verklebung von Wärmedämmverbundsysteme werden diesem Anspruch, den Sie formulieren, sicher nicht gerecht.

Wir müssen Beton weiter entwickeln.
Dirk Hebel, Professor für Nachhaltiges Bauen an der Architekturfakultät des KIT

Brauchen wir neue Baumaterialien?

Hebel: Ja, das glaube ich in der Tat. Einerseits, um unsere Palette an Möglichkeiten zu erweitern, Thema Ressourcenknappheit, andererseits um den Kreislaufgedanken voranzutreiben und vor allem auch biologische Baumaterialien und deren Möglichkeiten auch als CO2-Senke zu nutzen. Dort gibt es unglaubliche Entwicklungen bis hin zu Bakterien, die helfen könnten, Baustoffe der Zukunft bereitzustellen. Wir selbst forschen zu Baustoffen aus Gräsern und Pilzmycelium, das Wurzelwerk von Pilzen. Es gibt viele Anwendungsgebiete dieser neuen Stoffe und wir müssen schauen, wie und wo wir die bisherigen auch weiterhin sinnvoll einsetzen. Stahlbeton ist natürlich ein wunderbares Baumaterial. Wir müssen diesen Stoff aber weiterentwickeln, vor allem in Hinblick auf die CO2-Diskussion und endlicher mineralischer Ressourcen.

Wir müssen Netzwerke in Quartieren und Nachbarschaften aufbauen.
Dirk Hebel, Professor für Nachhaltiges Bauen an der Architekturfakultät des KIT

Wie werden wir unsere Häuser in Zukunft heizen und klimatisieren?

Hebel: Wir reden in Deutschland sehr engagiert von der Energiewende und haben zu oft immer nur den Stromsektor im Auge. Noch wichtiger im Gebäudesektor ist allerdings der Wärmesektor. Etwa 35 Prozent der Gebäude in Europa sind älter als 50 Jahre und etwa 75 Prozent des Gebäudebestandes gilt als nicht energieeffizient. Wenn bis 2050 ein nahezu CO2-neutraler Gebäudebestand erreicht werden soll, dann müssen schon heute sämtliche Baumaßnahmen darauf ausgerichtet werden. Das heißt, neue Gebäude und Verbünde von Gebäuden müssen als Plusenergiesysteme sowohl den eigenen Bedarf an Wärme, Kälte und Strom und darüber hinaus auch anteilig den von Bestandsgebäuden mit erneuerbaren Energieträgern abdecken. Wir müssen Netzwerke in Quartieren und Nachbarschaften aufbauen und ein intelligentes Management und Verschieben von Energien herbeiführen. Dazu gehören auch die Speicher von Mobilitätssystemen, die als Teil der Grundversorgung mitgedacht und in die vernetzen Systeme integriert werden müssen. Seien es nun Batterien, Wasserstofftanks oder andere zukünftige Technologien.

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